Ein Artikel von Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute
Die zurückliegende Dekade war durch außergewöhnliche Ereignisse geprägt. So gab es einen nahezu zehn Jahre anhaltenden konjunkturellen Aufschwung. Gleichzeitig hat die EZB mit einer bislang einmaligen Niedrigzinspolitik versucht, eine Deflation zu bekämpfen, für die es nie handfeste Indizien gab. Trotz der ultraleichten Geldpolitik lag die Inflationsrate im Euroraum durchweg in der Nähe des 2%-Ziels der EZB. Der als Folge von markanten Lieferengpässen im Frühjahr 2021 einsetzende Anstieg der Verbraucherpreise gewann durch den Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 massiv an Dynamik und erzwang den überfälligen Kurswechsel der EZB. So notwendig dieser Kurswechsel war, so wenig ist er geeignet, dem Anstieg der Verbraucherpreise in den Euroländern nachhaltig zu begegnen.
Der Grund: Anders als das Anziehen der Inflation in den USA waren die starken Preiserhöhungen im Euroraum weniger das Resultat einer markanten Nachfragesteigerung, sondern die Folge gestörter Lieferketten und explodierender Energiepreise. Aber: Nur weil die EZB die Zinsen anhebt, wird angesichts einer durchweg preisunelastischen Nachfrage kaum weniger Öl und Gas nachgefragt oder mehr angeboten. Dennoch ist die EZB gut beraten, ihren restriktiven Kurs vorerst beizubehalten. Anderenfalls würde sie ihre Reputation verlieren, zumal es zu den Zielen der Geldpolitik gehört, Zweitrundeneffekte zu verhindern. Denn unverändert gilt die alte Erkenntnis, dass Inflation dann herrscht, wenn die Menschen glauben, dass Inflation herrscht.
Folgen für die Volkswirtschaft
Dieser geldpolitische Kurswechsel im Zusammenwirken mit den geopolitischen Verwerfungen der jüngsten Vergangenheit dürfte 2023 dazu führen, dass die deutsche Volkswirtschaft im ersten Halbjahr eher leicht schrumpft als nur stagniert.
Durch die Zinssteigerungen wird die Finanzierung dringend benötigter Investitionen wie in den Klimaschutz oder die Infrastruktur erschwert.
Auch wenn die Steigerungen der Verbraucherpreise perspektivisch geringer ausfallen werden, dürfte es der EZB nicht gelingen, die Inflationsrate in absehbarer Zeit wieder in die Nähe ihres Ziels von 2% zu drücken. Daher wird die Geldpolitik nur wenig Spielraum haben, um die Wirtschaft zu stimulieren.
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