Ein Artikel von Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
Nach § 172 Abs. 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist berufsunfähig, „wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.“ Nach der gesetzgeberischen Intention ist danach auf den Beruf vor Eintritt des Versicherungsfalls in seiner konkreten Ausgestaltung abzustellen. Versichert ist demnach nicht ein Beruf an sich bzw. ein Berufsbild, sondern vielmehr die individuelle und konkrete Tätigkeit des Versicherten. Insoweit handelt es sich bei dem Berufsbegriff um einen dynamischen Begriff, da dieser sich der Tätigkeit des Versicherungsnehmers „anpasst“. Versichert ist damit die letzte Berufsausübung, so wie sie in gesunden Tagen konkret ausgestaltet war. Aus diesem Grund ist es unerheblich, welche Berufsbezeichnung der Versicherungsnehmer im Versicherungsantrag angegeben hat.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Leistungsprüfung
Zeitlicher Orientierungspunkt für den BU-Leistungsfall ist zunächst der Zeitpunkt des vom Versicherungsnehmer behaupteten Eintritts der Berufsunfähigkeit. Demnach ist die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie in gesunden Tagen davor ausgestaltet war, entscheidend. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) (siehe hier: Tätigkeit des Versicherten) ist damit der Zeitpunkt vor dem Beginn der ersten Beschwerden bzw. Beeinträchtigungen gemeint, die zur Berufsunfähigkeit führten bzw. der Zeitpunkt, zu dem der Versicherungsnehmer noch „gesund“ war. Bei sich „nach und nach“ verschlechternden Erkrankungen muss zeitlich entsprechend davor angesetzt werden, um den maßgeblichen Beruf zu ermitteln. Dies kann zur Folge haben, dass bei Berufswechsel des Versicherungsnehmers ein ganz anderer Beruf für die Leistungsprüfung maßgeblich ist, als der, in dem der Versicherungsnehmer meint, berufsunfähig geworden zu sein.
Berufswechsel des Versicherungsnehmers
Wechselt der Versicherungsnehmer vor Eintritt der Berufsunfähigkeit den Beruf, ohne dass dies mit seiner Gesundheitsbeeinträchtigung zusammenhängt, so ist nach einer gewissen Dauer diese neue Tätigkeit als maßgeblicher Beruf zugrunde zu legen, da es sich dabei um den zuletzt ausgeübten Beruf handelt.
Dagegen ist das Abstellen auf den zuletzt ausgeübten Beruf ausnahmsweise dann nicht geboten, wenn der Versicherungsnehmer leidensbedingt den Beruf aufgibt und in eine ihm noch mögliche Tätigkeit wechselt (sogenannter leidensbedingter Berufswechsel). Dieser Berufswechsel kann etwa durch Herabsinken der beruflichen Leistungsfähigkeit durch Krankheit oder Kräfteverfall oder wegen krankheitsbedingter Kündigung in Betracht kommen. Dass es richtigerweise nicht auf den leidensbedingt gewählten Beruf ankommen kann, ergibt sich bereits daraus, dass es sich dann nicht um die bedingungsgemäße Tätigkeit, wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH bleibt bei einem ausschließlich leidensbedingten Berufswechsel vor Eintritt des Versicherungsfalls der vor diesem Wechsel in gesunden Tagen ausgeübte Beruf der maßgebliche Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit.
Zweigliedrigkeit des BU-Begriffs in den AVB
Der Begriff der Berufsunfähigkeit setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: eine gesundheitliche und eine berufsbezogene Komponente. Auf den Beruf hat sich insbesondere die medizinische Bewertung zu beziehen, nämlich ob durch Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall die Fähigkeit der Berufsausübung beeinträchtigt ist und ob diese Beeinträchtigung ein Ausmaß erreicht, das bedingungsgemäß zu einem Leistungsanspruch führt. An den Nachweis werden indes hohe Anforderungen gestellt werden, so dass sich für den Versicherungsnehmer, der in beiden Komponenten darlegungs- und beweispflichtig ist, diesbezüglich eine Hürde ergibt.
Darlegungs- und Beweislast
Der Versicherungsnehmer ist für Art und Umfang seines Berufs darlegungs- und beweispflichtig. Daher erfordert die Bewertung, ob eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist, dass die konkrete Ausgestaltung des zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls ausgeübten Berufs sowie die sich aus dieser Berufsausübung ergebenden Anforderungen festgestellt werden. Die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ohne Darlegung der genauen beruflichen Tätigkeiten ist für den Versicherer praktisch unmöglich. Denn es muss geprüft werden, wie sich die individuellen Beschwerden des Versicherungsnehmers auf dessen individuelle Berufsausübung ausgewirkt haben. Da die konkrete Tätigkeit des Versicherungsnehmers versichert ist, ermöglicht erst ein vollständiger Vortrag zum Beruf die abschließende Beurteilung, ob der Versicherungsnehmer den Anforderungen der konkret ausgeübten Tätigkeit in einem Ausmaß nicht mehr gewachsen ist, den der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeitsversicherung voraussetzt.
Fazit und Hinweise
Es ist somit auf die Tätigkeit abzustellen, die der Versicherungsnehmer ausgeübt hat, solange seine Leistungsfähigkeit noch nicht durch seine Erkrankung beeinträchtigt gewesen ist und solange ihn die spürbar werdenden Folgen seiner Erkrankung noch nicht zur fortlaufenden Einschränkung seiner bisherigen Tätigkeit gezwungen haben (siehe auch: Maßgebende Berufsausübung für den Leistungsfall in der Berufsunfähigkeitsversicherung).
Die Frage, auf welchen Beruf bzw. welche Tätigkeit abgestellt wird, kann grundsätzlich nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr hängt sie von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Abschließend kann jedoch festgestellt werden, dass nicht etwa ein bestimmtes Berufsbild oder die Berufsbezeichnung maßgeblich ist, sondern die in gesunden Tagen zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Dass man für dessen Bestimmung möglicherweise viele Jahre seit Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückblicken muss, liegt bei vielen Erkrankungen in der Natur der Sache und wird vom BGH auch nicht beanstandet.
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