Die deutsche Wirtschaft wird auch im kommenden Jahr nicht merklich an Schwung gewinnen. Zu dieser Einschätzung gelangen die Chefökonomen führender (Rück-)Versicherer von Allianz SE, Munich Re und Swiss Re während eines Talks über die wirtschaftliche Lage in Deutschland und der Welt unter Moderation von Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV). Hauptursache dafür stellen die anhaltenden konjunkturellen Risiken Inflation und Zinsen dar. Als Wachstumsbremse gesellen sich dazu nach Aussagen der Wirtschaftsexperten nun aber auch vermehrt strukturelle Herausforderungen wie der gravierende Fachkräftemangel oder die überbordende Bürokratie.
Kaufkraftverlust ist noch nicht verkraftet
„Die deutschen Verbraucher haben den großen Kaufkraftverlust der letzten beiden Jahre immer noch nicht verkraftet“, gibt mit Blick auf die aktuelle Wirtschafslage Jérôme Jean Haegeli, Chefökonom bei Swiss Re, zu bedenken. Zwar würden die Reallöhne in jüngster Zeit langsam ansteigen. Innerhalb der letzten 18 Monate aber sei die Teuerung bei etwa 15% gelegen. Daher befände sich laut dem Top-Ökonom von der Swiss Re die reale Kaufkraft weiterhin um etwa 10% unter dem Niveau des Jahres 2020. Das bremse das Wirtschaftswachstum hierzulande deutlich aus.
Der andere konjunkturelle Hemmschuh heißt Zins. Aus Sicht der Verbraucher, der Wirtschaft und hier insbesondere auch der Versicherer sei die Rückkehr des realen Zinses durchaus wünschenswert gewesen, erläutert Dr. Michael Menhart, Chefökonomen bei der Munich Re. Allerdings müssten nun eben die Finanzierungskosten unter den Marktteilnehmern wieder härter erarbeitet werden als noch zu Zeiten der Nullzinsphase.
Arbeitskräftemangel ist verstärkt zu verspüren
Daneben aber treten insbesondere in Deutschland nun vermehrt auch strukturelle Aspekte auf, die die mittelfristigen Wachstumsaussichten beeinträchtigen könnten. Dazu zählt laut Dr. Menhart der eklatante Arbeitskräftemangel, der sich branchenweit und über unterschiedliche Qualifikationsniveaus immer stärker bei den Unternehmen bemerkbar macht. Die vergleichsweise schwache Erholung im Dienstleistungssektor nach dem Corona-Schock sowie ein enttäuschendes Produktivitätswachstum seien erste Anzeichen. Und das höhere Niveau bei Strom- und Gaspreisen macht wiederum der energieintensiven Industrie hierzulande – einer wichtigen Säule des Wirtschaftswachstums – zunehmend zu schaffen.
Davon abgesehen bleibt die schwerfällige Bürokratie in Deutschland ein Wachstumshemmnis. Die Top-Ökonomen fordern daher eine Verschlankung und Beschleunigung von Genehmigungsprozessen insbesondere im Bereich digitaler Infrastruktur. Die Wettbewerbsattraktivität Deutschland müsse nicht zuletzt auch infolge des gegenwärtigen Haushaltsstreits unbedingt wieder gestärkt werden.
Uneinigkeit bei der Aussicht auf Zinssenkungen
Was dem Konjunkturmotor helfen könnte: eine baldige Zinssenkung durch die großen Notenbanken der Welt. Eine Frage, die die Kapitalmärkte bereits seit geraumer Zeit beschäftigt (AssCompact berichtete). Allerdings blicken die versammelten Chefökonomen bei dieser Frage skeptisch in die Zukunft. Swiss Re und Munich Re rechnen für 2024 mit keiner Zinssenkung durch die EZB. Denn Haegeli zufolge ist Preisstabilität laut EZB-Kriterium aktuell noch keineswegs erreicht. Und das wird auch im kommenden Jahr so bleiben. Ludovic Subran, Chefökonom bei Allianz SE, rechnet dagegen mit einer ersten Zinssenkung im Herbst 2024. Zugleich aber warnt er vor der Erwartung mittelfristig niedriger Inflationsraten. Vielmehr werden seiner Ansicht nach die Dekarbonisierung der Industrie sowie die Deglobalisierung der Handelsketten die Inflationsraten auch mittelfristig höher ausfallen lassen als man es zuletzt eben gewohnt war. (as)
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