Die deutlich angestiegene Inflation hat im Euroraum und in den USA 2022 für die Zinswende gesorgt. Die Europäische Zentralbank hat nun vor zwei Wochen den ersten Schritt nach unten gewagt, in der Überzeugung, dass die Inflation im Griff sei und weiterhin im Zaum gehalten werden könne. Doch die US-Notenbank verharrt seit Juli 2023 auf ihrer Zinsspanne von 5,25% bis 5,5%. Hintergrund: Die Inflation in den USA hält sich mit 3,3% im Mai noch etwas hartnäckiger als in der Eurozone.
Zielsetzung ist bei den Notenbanken seit jeher eine Teuerungsrate von 2% p. a. Doch angesichts der Situation in den Staaten gibt es mittlerweile einige Experten, die diese Marke wohl etwas aufweichen oder gar aufgeben wollen. Das nimmt Kapitalmarktstratege Carsten Roemheld von Fidelity International zum Anlass, sich mit der Frage zu befassen, ob das Inflationsziel von 2% eigentlich noch zeitgemäß ist.
Zentralbanken unter Druck
Unter den Kritikerstimmen zur 2%-Marke ist auch der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, der in einem Handelsblatt-Kommentar die EZB dazu aufforderte, „in Zeiten multipler Krisen in einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft“ ihr festes Inflationsziel abzuschaffen. Auch Olivier Blanchard, früherer Chefökonom des Internationalen Währungsfonds habe laut Roemheld schon vor mehreren Jahren dafür plädiert, die Zentralbanken sollten besser eine Inflation von 4% anpeilen.
Tatsächlich könnte die magische 2%-Grenze irgendwann fallen, so Roemheld. Denn das eigentliche Mandat der Zentralbanken bestehe darin, die Preise stabil zu halten. Doch was das genau bedeuten soll, lasse zumindest Raum für Interpretationen. Für den ehemaligen Fed-Chef Alan Greenspan etwa war Preisstabilität ein Zustand, „in dem die erwartete Preisänderung nicht das Verhalten von Unternehmens- und Haushaltsentscheidungen verändert“. Mit anderen Worten: Die Inflation müsse nicht unbedingt besonders niedrig sein, aber erwartbar, so Roemheld. Gleichzeitig solle sie weit genug vom Nullpunkt entfernt sein, um das Risiko einer Deflation gering zu halten. Dass das Ziel gerade bei 2% liegt, sei mehr einem Zufall geschuldet als irgendeiner fundamentalen Einsicht. Ende der 1980er-Jahre bemühte sich die Zentralbank Neuseelands um Autonomie gegenüber der Politik. Um das zu erreichen, hegte die Notenbank sich in ihrer Arbeit quasi freiwillig selbst ein – und definierte ein festes Ziel der Geldpolitik: Das Inflationsziel von 0% bis 2% war geboren. In den darauffolgenden Jahren verbreitete sich dieser Korridor zum Maßstab in aller Welt.
Allzweckwaffe 4%?
Das Problem an einer langfristigen Inflation von unter oder um die 2% sei, dass die Zentralbanken damit nur einen relativ geringen Spielraum in Rezessionsphasen hätten. Denn Zinssenkungen, die grundsätzlich dazu dienen, die Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit zu senken, könnten zugleich die Geldentwertung befeuern. Läge das Inflationsziel nun statt bei 2% bei 4%, könnten die Währungshüter stärker gegensteuern, ohne an eine Zinsuntergrenze zu stoßen, die die Inflation zu sehr anheizt. Noch dazu, so die Befürworter höherer Geldentwertung, würde eine stetig erhöhte Inflation für mehr Investitionen sorgen, wie sie in Anbetracht des Klimawandels notwendig seien. Und nicht zuletzt würde sich die Schuldenlast der Staaten durch höhere Inflation schneller verringern.
Zugleich aber genieße Roemheld zufolge das 2%-Ziel Legendenstatus – und werde immer wieder beschworen, wenngleich auch in manchen weicheren Varianten zwischen „rund um“, „bis zu“ oder „im Durchschnitt“. Die Gefahr dabei: Würden Zentralbanken plötzlich vom Inflationsziel abrücken, könnte allein dies die Märkte verunsichern und die Inflation verstärken. In diesem Fall würden auch die Risikoprämien am Kapitalmarkt ansteigen, was wiederum die Kreditzinsen erhöhen und somit zu einer höheren Inflation führen würde. Zuletzt verteidigte beispielsweise der Präsident der Fed, John Williams, die explizite Festlegung auf das 2%-Ziel. Ein klares Ziel sei notwendig, um den Preisauftrieb überhaupt erfolgreich bekämpfen zu können.
Fazit
Die Fed stehe in der aktuellen Situation geschlossen hinter ihrem 2%-Ziel, erläutert Roemheld – was auch plausibel sei. Denn die Preise in den USA sinken nur langsam, die Inflation hält sich hartnäckiger als erwartet. In diesem Umfeld eine Diskussion über das Inflationsziel zuzulassen, käme dem Geständnis gleich, dass die Zentralbank nicht mehr Herrin der Lage wäre. Bevor die Währungshüter die Preise also nicht vollständig kontrollieren, findet Roemheld es klüger, die Zielmarke nicht in Frage zu stellen. Sind die Preise wieder unten, lasse sich über vieles reden – auch über neue Inflationsziele in Zeiten des Investitionsstaus. (mki)
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