BGH geht vom verständigen Leser ohne Spezialkenntnisse aus
Das überzeugte aber den Versicherungsnehmer nicht, der daraufhin den BGH anrief: Dieser wandte wiederum die eingangs erwähnte Formel vom verständigen Versicherungsnehmer an und kam zu einem diametral anderen Ergebnis: Nur weil im Versicherungsvertrag eine Reihe von Schadenereignissen versichert seien, die alle in einem zeitlich eng begrenzten Zeitfenster stattfinden, könne der unbedarfte Versicherungsnehmer daraus nicht zwingend schließen, dass dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spontanität auch in den Erdrutsch quasi hineinzulesen sei. In diesem Zusammenhang spielt unterschwellig natürlich das Argument hinein, der Versicherer wäre ja, wenn er nur für einen plötzlichen Erdrutsch hätte haften wollen, nicht daran gehindert gewesen, dieses Leistungsversprechen genau so in seinen Versicherungsbedingungen zu definieren. Da diese Einschränkung in den Versicherungsbedingungen jedoch nicht zu finden war, kann man auch nicht vom unbedarften Leser erwarten, dass er in Analogie zu den anderen Versicherungsfällen diese zeitliche Komponente in den Erdrutsch hineinliest. In dem zugehörigen Klauseltext wird Erdrutsch als ein „naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen“ definiert. Nun wird der unvoreingenommene Leser nicht davon ausgehen, dass es sich vorliegend um einen Absturz handelt, weil ein Sturz immer das Moment der Plötzlichkeit in sich birgt. Aber warum sollte man es nicht unter den Begriff des Abgleitens subsumieren?
Der technische Laie unterscheidet nicht zwischen „Kriechen“ und „Rutschen“
Der BGH akzeptiert in seinem Urteil vom 09.11.2022 – IV ZR 62/22 die Ausführung der Vorinstanz, dass man in geologischen Fachkreisen zwischen den langfristig und langsam verlaufenden Erdbewegungen ohne ausgeprägte Gleitflächen als „Erdkriechen“ und Erdbewegungen, die so schnell ablaufen, dass man sie beobachten kann, als „Erdrutsch“ differenziert. Doch der BGH weist darauf hin, dass auch der aufmerksame Leser ohne geologische Spezialkenntnisse bei der Lektüre der Versicherungsbedingungen keinen Anhaltspunkt findet, der von sich aus diese Differenzierung nahelegt. Daher muss sie unberücksichtigt bleiben. Im Ergebnis darf der verständige Versicherungsnehmer zu Recht davon ausgehen, dass eine schadenstiftende Erdbewegung – ganz gleich, ob sie schnell oder langsam verläuft – ein Erdrusch im Sinne der am Markt üblichen Versicherungsbedingungen ist.
BGH klebt am Wortsinn der Versicherungsbedingung
Juristen sind es gewohnt, bei der Auslegung von Gesetzen und Verträgen nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks kleben zu bleiben, sondern den wirklichen Willen des zum Ausdruck Gebrachten zu erforschen und herauszuschälen (§ 133 BGB). Dazu steht im vermeintlichen Widerspruch die konsequente, ja fast penetrante Art des Karlsruher Versicherungssenates, beim Verständnis von Versicherungsbedingungen nur das zu berücksichtigen, was ausdrücklich im Bedingungstext steht, und Spezialwissen konsequent unberücksichtigt zu lassen. Immer wieder mal wird den Instanzgerichten daher ins Stammbuch geschrieben: Versicherungsbedingungen sind verständig zu lesen, aber nicht interpretierend auszulegen. Die sehr konsequente Herangehensweise des BGH hat aber in unbestreitbarer Weise zwei Vorteile für die Rechtssicherheit beim Verständnis von Versicherungsbedingungen: Durch die Ausblendung von Spezialkenntnissen stelle sich nicht die Frage, welches Fachwissen noch als Allgemeinbildung vorausgesetzt werden muss. Und durch die strikte Anwendung des Bedingungswortlautes unter Ausblendung jeglichen Spezialwissens kann, bei konsequenter Umsetzung der eingangs dargestellten Auslegungsmethodik vom verständigen Leser, das höchstrichterliche Verständnis von Klausel- und Bedingungstexten verhältnismäßig gut antizipiert werden.
Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 03/2023, S. 102 f., und in unserem ePaper.
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