Ein Artikel von Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
Berufsunfähig zu werden ist eine der größten Sorgen für viele Menschen. Sie kann nicht nur ein mögliches Ende der Erwerbstätigkeit bedeuten, sondern auch zu erheblichen finanziellen Belastungen führen. In solchen Fällen kann die Berufsunfähigkeitsversicherung in der Regel „Schutz“ bieten. Doch die Regelungen rund um die Vertragsleistungen sind komplex und hängen oft von spezifischen Bedingungen ab.
Eine dieser Bedingung ist die sogenannte „konkrete Verweisung“. Aber was passiert, wenn selbst der Verweisungsberuf später wegfällt? Welcher Beruf bleibt dann noch versichert bzw. ist Maßstab für einen Versicherungsfall? Ursprungsberuf oder letzte Tätigkeit?
Kurzportrait der „konkreten Verweisungsklausel“
Die konkrete Verweisungsklausel berechtigt den Versicherer, den Leistungsanspruch zu verweigern bzw. zu beenden, wenn der Versicherte trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen eine andere Tätigkeit aufgenommen hat, die…
- … der bisherigen Lebensstellung entspricht: Die neue Tätigkeit muss in Bezug auf Einkommen, Qualifikation und gesellschaftliches Ansehen vergleichbar mit dem zuletzt ausgeübten Beruf sein.
- … tatsächlich ausgeübt wird: Es genügt nicht, dass der Versicherte theoretisch in der Lage wäre, eine solche Tätigkeit ausüben zu können. Die neue Tätigkeit muss konkret ausgeführt werden.
Das bedeutet, dass die Versicherungsleistungen eingestellt werden können, wenn der Versicherte in einer neuen, vergleichbaren Position arbeitet – selbst, wenn er seinen ursprünglichen Beruf aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr ausübt.
Mögliche berufliche „Lebensszenarien“
Ein Fliesenleger ist in seinem Beruf unstrittig berufsunfähig, beginnt aber eine vergleichbare Tätigkeit als Fliesenfachverkäufer und wird nachfolgend auf diese Tätigkeit mittels konkreter Verweisung durch die Versicherung verwiesen.
- Einkommensreduktion aus gesundheitlichen Gründen
Fall 1: Nach einigen Jahren reduziert er den Verweisungsberuf aus gesundheitlichen Gründen, ohne aber im neuen Beruf zu mindestens 50 % berufsunfähig zu sein. Sein Einkommen ist nicht mehr mit der ursprünglichen Fliesenlegertätigkeit vergleichbar.
Der Versicherungsnehmer könnte nun einen neuen Leistungsantrag stellen. Hier ist auch wieder grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung maßgebend, so wie sie „in gesunden Tagen“ ausgestaltet war, d. h., solange die Leistungsfähigkeit des Versicherten noch nicht eingeschränkt war. Also wenn der Versicherte seine berufliche Tätigkeit aufgrund von Krankheit, Kräfteverfall oder gesundheitlich bedingt in eine andere, weniger belastende Tätigkeit wechselt, ist stets noch der ursprüngliche Beruf (hier: Fliesenleger) versichert (vgl. BGH, Urteil vom 14. 12. 2016 – Az. IV ZR 527/15).
Voraussetzung ist aber, dass die Veränderung der beruflichen Tätigkeit ausschließlich leidensbedingt erfolgte. Führten dagegen auch andere Gründe zum Berufswechsel, beispielsweise deutlich verbesserte wirtschaftliche Bedingungen, ist auf den neuen und nicht den ursprünglichen Beruf abzustellen. Dieses ist auch nachvollziehbar. Denn anders betrachtet würde es dazu führen, dass ein fortlaufend absinkendes Leistungsniveau als neue Grundlage anerkannt wird, was dem Sinn der Berufsunfähigkeitsversicherung widersprechen würde.
- Einkommensminderung aus „privaten Gründen“ und betrieblicher Kündigung
Fall 2: Nach einigen Jahren reduziert er diese Tätigkeit aus privaten Gründen auf eine Teilzeittätigkeit, wodurch sein Einkommen nun nicht mehr mit der ursprünglichen Fliesenlegertätigkeit vergleichbar ist.
Fall 3: Nach einigen Jahren verliert er seinen neuen Job als Fliesenfachverkäufer, weil der Arbeitgeber insolvent wird oder ihm kündigt.
Auf den ersten Blick scheinen die beiden Fälle grundlegend unterschiedlich, jedoch basieren sie auf denselben grundlegenden Überlegungen, weshalb das Thema nicht ohne Kontroversen ist. Hierzu bestehen zwei unterschiedliche Ansichten.
Der BGH – Versicherungsnehmerfreundlich!
Der BGH ist der Auffassung, dass erneut eine Leistungspflicht des Berufsunfähigkeitsversicherers begründet wird, wenn der Versicherungsnehmer zwar eine andere Tätigkeit ausüben könnte, diese aber nicht ausübt (vgl. BGH, a. a. O.). Nach den Versicherungsbedingungen ist eine Verweisung nur auf Tätigkeiten zulässig, die der Versicherte auch tatsächlich ausübt. Nach einer Kündigung ist dies nicht mehr der Fall und auch bei einer Teilzeittätigkeit besteht keine Verweisungstätigkeit im Sinne des Vertrages mehr, da deutliche Einkommenseinbußen eine Verweisbarkeit ausschließen. Bestreitet der Versicherer auch nicht, dass der Versicherungsnehmer seinen Ursprungsberuf nicht mehr ausüben könnte, darf ein unverändert schlechter Gesundheitszustand und die entsprechende medizinische Seite der Berufsunfähigkeit als „erneut” gegeben unterstellt werden. Zusammengefasst bedeutet dies: nur bei einer Kombination aus beendeter Verweisungstätigkeit und zu diesem Zeitpunkt bestehender Berufsunfähigkeit im Ursprungsberuf kommt eine (erneute) Leistungspflicht des Versicherers in Betracht.
Der Grund, weshalb eine Verweisungstätigkeit beendet wird (sei es wie im vorliegenden Fall durch die betriebliche Kündigung oder privaten Gründen), ist unerheblich. Die zeitweilige Ausübung einer Verweisungstätigkeit darf schließlich nicht zu einem zukünftigen Verlust des Versicherungsschutzes in seinem ursprünglich versicherten Beruf führen, weshalb es schlussendlich auch nicht auf die Gründe der Beendigung einer Vergleichstätigkeit ankommen darf. Kurz gefasst: Der Beruf des Fliesenlegers ist (weiterhin) versichert.
Die Gegenseite – Unfreundlich gestimmt!
Die Gegenseite, die in der juristischen Welt als „Literatur“ bezeichnet wird, vertritt eine andere Ansicht. Sie kritisiert die Rechtsprechung, da das Risiko der Berufsunfähigkeit nach einer konkreten Verweisung an gesundheitliche Einschränkungen geknüpft sein sollte. Eine Beendigung der Verweistätigkeit ohne gesundheitliche Gründe, etwa aufgrund einer Kündigung, wird als „Marktrisiko“ oder „Arbeitsplatzrisiko“ angesehen und nicht als Teil des versicherten Risikos. Befürchtet wird, dass der Ansatz des BGH zu einem Gestaltungsmissbrauch führen könnte, bei dem Versicherte absichtlich eine Tätigkeit beenden, um wieder Leistungen der Versicherung zu erhalten. Wenn der Versicherte also die Tätigkeit aus anderen Gründen beendet, dann realisiere sich das versicherte Risiko nicht mehr, und es solle nicht zu einer Wiederaufnahme der Leistungspflicht kommen.
Fazit und Hinweise
Wie aufgezeigt ist der Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung sehr komplex. Viele konkrete Fragen können fast ausschließlich nur am Einzelfall geprüft und dargestellt werden. Nach alledem ist der Auffassung des BGH zu folgen. Diese stellt die herrschende Auffassung dar, an welcher die Gerichte eine Einzelfallprüfung vornehmen. Und wie sagt man so schön: „Die Literatur ist eine Wegweisung, aber die Rechtsprechung geht den Weg.“
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