Ein Artikel von Hans-Ludger Sandkühler
Seit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung zu kürzen, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt hat (§ 81 Abs. 2 VVG). Die Leistungskürzung bemisst sich nach der Schwere des Verschuldens (Quotelung). Nach der davor geltenden Gesetzeslage führte eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls dagegen regelmäßig zur kompletten Leistungsfreiheit des Versicherers. Mittlerweile gibt es zahlreiche Gerichtsentscheidungen zur Bemessung der Quotelung. Eine Bestandsaufnahme.
Hintergrund
Die Aufgabe des Alles-oder-nichts-Prinzips war einer der zentralen Punkte der VVG-Reform. Die frühere Rechtslage sanktionierte die Verletzung vertraglicher oder gesetzlicher Obliegenheiten und des Verbots der Gefahrerhöhung sowie von Anzeigepflichten unter bestimmten Voraussetzungen regelmäßig mit Leistungsfreiheit des Versicherers und Verlust des Versicherungsschutzes beim Versicherungsnehmer. Dem lag das sogenannte Alles-oder-nichts-Prinzip zugrunde: Entweder volle vertragliche Versicherungsleistung oder Leistungsfreiheit des Versicherers. Eine scheinbar einfache Regelung, weil die Leistungsfreiheit nach Feststellung einer Vertragsverletzung und eines hinreichenden Verschuldens des Versicherungsnehmers ohne Weiteres und insgesamt eintrat.
Im Ergebnis führte dieses Prinzip aber bei ähnlich gelagerten Fällen mit nur graduellen Unterschieden im Verschulden zu gegensätzlichen Rechtsfolgen: In dem einen Fall voller Versicherungsschutz und in dem anderen, fast identischen Fall völlige Leistungsfreiheit. Zur Vermeidung systembedingter Rechtsfolgen, die den Umständen des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden konnten, hat die Rechtsprechung in solchen Situationen die Schwelle der groben Fahrlässigkeit teilweise nach oben verschoben.
Mit der VVG-Reform wurde deshalb das Alles-oder-nichts-Prinzip aufgegeben und durch ein für sämtliche Verletzungen vertraglicher Pflichten und Obliegenheiten des Versicherungsnehmers weitgehend einheitliches System von Rechtsfolgen ersetzt, das für alle Beteiligten verständlich sein und ihre Interessen angemessen berücksichtigen sollte. Zentrale Inhalte des neuen Systems sind:
- Einfache Fahrlässigkeit bleibt folgenlos.
- Vorsatz führt stets zur Leistungsfreiheit.
- Bei grob fahrlässigen Verstößen des Versicherungsnehmers (VN) gegen Obliegenheiten kann der Versicherer seine Leistung entsprechend der Schwere des Verschuldens kürzen (Quotelung).
- Grundsätzliches Kausalitätserfordernis für Leistungsfreiheit (Ausnahme: betrügerisches Verhalten des VN).
- In einigen Fällen wird Leistungsfreiheit durch Kündigungs- und Prämienerhöhungsrechte ersetzt.
- Belehrungspflichten des Versicherers und einheitliche Beweislastregeln.
Mit der Neuregelung sollen so Versicherungsnehmer bei grob fahrlässigem Verhalten vor dem Komplettverlust ihres Versicherungsschutzes geschützt werden.
Herbeiführung des Falls durch den Versicherungsnehmer
Diese Grundsätze gelten auch für die Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer. Gemäß § 81 Abs. 1 VVG ist der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich herbeiführt. Bei grob fahrlässiger Herbeiführung ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen (§ 81 Abs. 2 VVG). Damit ist eine Zwei-Stufen-Prüfung erforderlich. Zunächst muss festgestellt werden, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt. Danach muss die Schwere des Verschuldens geprüft und je nach Ergebnis eine Quote festgelegt werden.
Grobe Fahrlässigkeit
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt grob fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Bei einem grob fahrlässigen Verhalten muss es sich um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt. Ob ein Verhalten im Einzelfall als grob oder einfach fahrlässig zu werten ist, erfordert eine Abwägung aller objektiven und subjektiven Tatumstände und entzieht sich deshalb weitgehend einer Anwendung fester Regeln.
Schwere des Verschuldens
Die im Falle der Feststellung einer groben Fahrlässigkeit gem. § 81 Abs. 2 vorzunehmende Leistungskürzung hat sich nach dem Gesetzeswortlaut an der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers zu orientieren. Die Verschuldensskala reicht dabei vom unteren Ende in der Nähe des Bereichs der einfachen Fahrlässigkeit (keine Leistungskürzung) bis an das obere Ende in der Nähe des Bereichs des Vorsatzes (vollständige Leistungsfreiheit). Zur Bestimmung einer konkreten Kürzungsquote innerhalb dieser Range bedarf es einer erneuten Abwägung der Umstände des Einzelfalls. Eine pauschale Kürzung nach Fallgruppen kommt nicht in Betracht.
Bedeutung in der Praxis
Mittlerweile sind zahlreiche Entscheidungen auch der Instanzgerichte zur Bemessung der Quotelung bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer ergangen. Die Ergebnisse sind durchaus vielfältig. In manchen Entscheidungen kommt es zu keiner Leistungskürzung, in anderen wiederum zur vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers. Dazwischen viele Fälle mit Leistungskürzungen von 20% bis 90%. Den meisten Entscheidungen gemeinsam ist das erkennbare Bemühen der Gerichte, die Umstände des jeweiligen Einzelfalls gründlich abzuwägen und so die gesetzlichen Vorgaben in Einzelfallgerechtigkeit umzusetzen. Dennoch schlägt manchen Entscheidungen auch herbe Kritik entgegen. Demnach kürzen Versicherer Ansprüche auf Versicherungsleistung im Rahmen der Quotelung häufig unverhältnismäßig. Die Gerichte sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, diesem Verhalten mancher Versicherer nicht genügend Einhalt zu gebieten. So sei beispielsweise eine in einem Verfahren festgesetzte Leistungskürzung um 70% unangemessen hoch. Vielmehr erscheine eine Kürzung um höchstens 20% angemessen. Schon dieses eine Beispiel von vielen macht deutlich, dass die subjektive Einschätzung des Gerichts und die der Kritiker für das jeweilige Ergebnis von erheblicher Bedeutung sind und zu deutlichen Unterschieden in der Bewertung führen können. Dies hat bereits die Gesetzesbegründung zur VVG-Reform zugestanden. Tatsächlich könne Verschulden nur aufgrund einer Bewertung festgestellt werden, die nie frei von subjektiven Einschätzungen desjenigen sei, der sie vornehme.
Fazit für Versicherungsmakler
Die Quotelung bei grober Fahrlässigkeit in den Fällen der Herbeiführung des Versicherungsfalls und in anderen Bereichen der Verletzung von Obliegenheiten und Anzeigepflichten kann im Einzelfall zu gerechten und angemessenen Lösungen führen, ist für Kunden und Makler aber gleichzeitig auch eine Wundertüte, deren Inhalt niemand vorhersehen kann. Jeder Kunde ist je nach den Umständen der Gefahr einer vollständigen Leistungskürzung ausgesetzt. Deshalb sollten Makler dieses Risiko dem Kunden deutlich vor Augen führen und, soweit möglich, zu Deckungskonzepten raten, bei denen der Versicherer auf den Einwand der groben Fahrlässigkeit verzichtet.
Über Hans-Ludger Sandkühler
Hans-Ludger Sandkühler ist Vertriebs- und Versicherungsjurist und verfügt über praktische Erfahrungen aus seinen langjährigen Tätigkeiten als Versicherungsmakler und Rechtsanwalt. Er ist ausgewiesener Experte in Maklerfragen, gefragter Referent und Autor zahlreicher Veröffentlichungen.
Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 05/2023, S. 78 f., und in unserem ePaper.
Bild: © Tiko – stock.adobe.com
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Leserkommentare
Comments
zu Deckungskonzepten raten, bei denen der Versicherer auf ….
„… zu Deckungskonzepten raten, bei denen der Versicherer auf den Einwand der groben Fahrlässigkeit verzichtet...“
1. Warum soll die Versichertengemeinschaft für ein sorgloses Verhalten eines Kunden aufkommen wollen? Das entspricht nicht dem Versicherungsgedanken.
2. Was passiert, wenn der Versicherer dann bedingten Vorsatz einwendet?
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