Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke sollen in der Europäischen Union (EU) unter bestimmten Auflagen als klimafreundlich gelten. Trotz massiver Kritik aus EU-Parlament und EU-Mitgliedsstaaten – AssCompact berichtete – nahm die Europäische Kommission einen entsprechenden Rechtsakt nun an. Die zuständige EU-Kommissarin Mairead McGuinness sagte, der Rechtstext der Kommission sei „vielleicht nicht perfekt“, er biete aber „eine echte Lösung“ für das Ziel der EU, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden. Atomenergie und Gas seien zwar „an sich nicht grün, aber sie ermöglichen den Übergang zu erneuerbaren Energien“, hieß es von Kommissionsexperten. Hintergrund der Einstufung von bestimmten Gas- und Atomprojekten als nachhaltig ist die sogenannte EU-Taxonomie. Sie soll privates Kapital für Investitionen in klimafreundliche Unternehmen und Technologien mobilisieren, um die von der EU angestoßene grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen. Die EU-Kommission hatte große Änderungen am Entwurf ausgeschlossen. Dieser stelle bereits einen mühsam ausgehandelten Kompromiss dar zwischen Regierungen wie der französischen, die auf eine Aufnahme von Atomenergie drängen, und jenen wie der deutschen, denen Gaskraftwerke wichtig sind, hieß es dazu aus der Behörde.
Gaskraft gilt bis 2030, Atomkraft sogar bis 2045 als nachhaltig
Die Kommission argumentiert nun, dass der Strombedarf kräftig steigen werde, etwa wegen der zunehmenden Marktdurchdringung von Elektroautos. Wollen sich die Regierungen gleichzeitig von klimaschädlichen Kohlekraftwerken verabschieden, bräuchten sie Atomenergie oder Gas, heißt es. Der nun angenommene Rechtsakt sieht vor, dass Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig gelten, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreundlicheren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden. Neue Atomkraftwerke sollen sogar bis 2045 als nachhaltig klassifiziert werden, wenn ein konkreter Plan für die Endlagerung radioaktiver Abfälle ab spätestens 2050 vorliegt. Österreich und Luxemburg kündigten an, gegen diese Entscheidung zu klagen. Spanien, Dänemark, die Niederlande und Schweden lehnen eine nachhaltige Einstufung von Gas ebenfalls ab, hieß es Anfang der Woche in einem Brief an die Kommission.
Spezifischere Offenlegungspflichten für Nachhaltigkeitsfonds
Die Entscheidung, Gas und Atom künftig als nachhaltige Energie zu klassifizieren, verknüpft die EU-Kommission allerdings mit schärferen Offenlegungspflichten für Nachhaltigkeitsfonds. Die Behörde ist sich nämlich des Problems bewusst, dass viele Anleger es seltsam finden würden, wenn ihre Nachhaltigkeitsfonds Aktien von Atomfirmen oder Gaskraftbetreibern enthalten. Daher stuft die Taxonomie Atomenergie und Gas nur als sogenannte Brückentechnologien auf dem Weg zu einer klimafreundlichen Stromversorgung ein. Nachhaltige Fonds müssen daher klar erkennbar darüber informieren, ob sie ausschließlich Aktien und Anleihen von klassisch grünen Unternehmen beinhalten oder auch Anteile von Gas- und Atomkraftfirmen halten. Unterdessen wirft Magdalena Senn, Referentin für nachhaltige Finanzmärkte bei der Bürgerbewegung Finanzwende, der EU-Kommission „schädliches Greenwashing“ vor und kritisiert: „Die EU-Kommission begräbt ihr Ziel eines einheitlichen Standards für nachhaltige Geldanlagen. Sie stellt sich gegen die eigene Expertengruppe und deklariert wider besseren Rat Atomkraft und fossiles Gas als nachhaltig. Damit tritt die EU-Kommission wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Füßen.“ Auch der größte deutsche Fondsanbieter DWS lehnt eine Berücksichtigung beider Technologien ab. Die Kommissionsentscheidung „schwächt die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Taxonomie“, klagt Dennis Hänsel, der bei DWS das Geschäft mit nachhaltigen Produkten leitet. Werner Hoyer, Präsident der Europäischen Investitionsbank (EIB), beschwichtigt indes die Geschehnisse während der Jahrespressekonferenz der EIB: „Die Taxonomie mag einem erlauben, bestimmte Dinge zu tun. Doch das heißt nicht, dass sie das von einem auch zwingend verlangt zu tun.“
Nächste Schritte
Sobald der ergänzende delegierte Rechtsakt in alle EU-Sprachen übersetzt ist, wird er den Mitgliedsstaaten förmlich übermittelt, damit sie ihn innerhalb von maximal sechs Monaten prüfen können. Nach Ablauf dieser Frist und sofern weder das Europäische Parlament noch der Rat Einwände erhoben haben, tritt der ergänzende delegierte Rechtsakt in Kraft und gilt ab dem 01.01.2023. (as)
Bild: © Martin – stock.adobe.com
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