Interview mit Dr. h. c. Wilhelm Schluckebier, amtierender Ombudsmann für Versicherungen beim Versicherungsombudsmann e. V.
Herr Dr. Schluckebier, viele Hauseigentümer und Mieter standen infolge der Starkregenkatastrophe im Juli 2021 vor den Trümmern ihrer Existenz. Hat sich dieses Ereignis denn auch bei der Schlichtungsstelle bemerkbar gemacht?
Ja, natürlich. Wir erhielten schon unmittelbar nach dem Tief „Bernd“ aus dem Katastrophengebiet heraus Anrufe und Hilfebitten. Obgleich zu diesem Zeitpunkt noch keine Leistungsablehnung durch den Versicherer erfolgt war, was an sich Voraussetzung für einen zulässigen Schlichtungsantrag ist, haben wir sogleich versucht, unbürokratisch zu helfen und die Lösung anstehender Probleme im Kontakt mit dem betroffenen Versicherer auf den Weg zu bringen.
Die Zahl der aus dieser Großschadenlage hervorgegangenen Beschwerden belief sich im Jahr 2021 erstaunlicherweise auf nur knapp 100. Auch im ersten Halbjahr 2022 haben diese Schlichtungsanträge im Gesamtbeschwerdeaufkommen keine prominente Stellung. Es rundet sich also das Bild ab, dass es den Versicherern gelungen zu sein scheint, die Schadenregulierung im Großen und Ganzen weitgehend konfliktfrei zu bewerkstelligen.
Abgesehen von den im Vergleich zu den Schadenfällen geringen Beschwerden im Bereich Haus und Wohnen, welche Versicherungssparten sind besonders häufig von Verbraucherbeschwerden betroffen und worüber konkret (bspw. Widerrufsrecht Lebensversicherungen, Dieselskandal etc.) wird sich beschwert?
Seit Jahren sind die Lebens- und die Rechtsschutzversicherung die Spitzenreiter beim Beschwerdeaufkommen. In der Lebensversicherung steht nach wie vor all das, was sich mit dem Schlagwort vom ewigen Widerspruchsrecht kennzeichnen lässt, im Vordergrund. Hinzu kommen Fragen zu den eher spezielleren Themen wie beispielsweise der betrieblichen Altersversorgung, den Abschlusskosten und den Wertmitteilungen. Zum Widerspruchskomplex haben uns allein zu Silvester 800 Beschwerden erreicht, die spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien eingelegt haben, erkennbar auch mit dem Ziel, die verjährungshemmende Wirkung des Schlichtungsantrags zu nutzen. Auf diesem Feld sind einige Fragen, zum Teil erneut, nicht sicher zu beantworten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), des Bundesgerichtshofs (BGH) und einiger Oberlandesgerichte setzt immer wieder neue Impulse, die die rechtssichere Beurteilung von Sachverhalten erschweren – etwa zum Einwand der Versicherer, das Widerspruchsrecht sei verwirkt. Hier wünschen wir uns ein Mehr an Klarheit. Das wäre wohl für alle Akteure hilfreich, die mit diesen Fragen umgehen.
In der Rechtsschutzversicherung nimmt die Zahl der Schlichtungsanträge etwas ab. Der Dieselskandal scheint weitgehend aufgearbeitet, auch weil lange Zeit noch strittige Fragen mittlerweile durch die Rechtsprechung geklärt sind.
Bei Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Versicherern liegt der Gedanke an eine langwierige gerichtliche Auseinandersetzung nahe. Worin liegen die Vorteile für Verbraucher, sich im Streitfall zunächst an den Ombudsmann zu wenden?
Das Schlichtungsverfahren ist für Verbraucher kostenfrei, das Ergebnis bindet sie nicht. Der Weg zu den Gerichten steht ihnen weiterhin offen. Sie bekommen in jedem Fall eine sachkundige gutachtliche Bewertung des Sachverhalts an die Hand, die auch für ihr weiteres Vorgehen von Nutzen ist. Und es geht in aller Regel schnell. Wir schließen die Schlichtungsverfahren im Schnitt innerhalb von 70 Tagen ab. Der Zugang zum Verfahren ist einfach. Alle gängigen Kommunikationskanäle stehen offen. Auch der Telefonanruf in unserem Servicecenter, wo man ohne Umschweife auf kompetente menschliche Ansprechpartner stößt, ist ein Weg. Dort wird den Verbrauchern bei der Zusammenstellung der erforderlichen Unterlagen geholfen.
Im Falle einer Streitigkeit in Versicherungsangelegenheiten: Wie wird der Verbraucher denn überhaupt auf die Schlichtungsstelle aufmerksam?
Die Unternehmen und auch die Vermittler sind gesetzlich gehalten, in ihren Produktinformationen und Geschäftsbedingungen auf eine Verbraucherschlichtungsstelle und deren Kontaktdaten hinzuweisen. Diese gesetzliche Pflicht besteht auch, wenn es konkret zu einem Konflikt kommt. Für die Vermittler und die Versicherer ist es aber ratsam, das Instrument der Schlichtung proaktiv zu nutzen. Kommt es also zu Meinungsverschiedenheiten, kann dem Kunden aktiv der Vorschlag gemacht werden, den Versicherungsombudsmann als neutrale, unabhängige Stelle um seine Einschätzung zu bitten. Das kann auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Kundenzufriedenheit dienen. So lässt sich die Chance nutzen, die das Schlichtungsverfahren auch für die Vermittler und Unternehmen birgt.
Wie läuft ein Schlichtungsverfahren beim Ombudsmann für Versicherungen für gewöhnlich ab und wo liegen die Grenzen der Schlichtung?
Nachdem der Schlichtungsantrag auf einem der Kommunikationskanäle gestellt ist, bittet unser Servicecenter die Beschwerdeparteien darum, die Unterlagen einzureichen, die für die Beurteilung der Angelegenheit erforderlich sind. Liegen diese vor und hat auch der Versicherer oder der Vermittler Stellung genommen, prüft unsere juristische Abteilung die Sache. Je nach Ergebnis wird der Beschwerdegegner um Abhilfe gebeten, es wird ein Vergleich vorgeschlagen oder dem Beschwerdeführer wird in verständlicher Weise erläutert, weshalb das von ihm beanstandete Verhalten des Unternehmens oder des Vermittlers rechtlich in Ordnung ist. Es gibt allerdings auch Fallgestaltungen, die sich nicht für das vereinfachte und allein auf Grundlage der vorliegenden Unterlagen geführte Ombudsmannverfahren eignen. Wir vernehmen keine Zeugen und holen keine neuen Sachverständigengutachten ein. Auch komplexe, nur mit großem Aufwand zu klärende Sachverhalte oder Rechtsfragen eignen sich nicht für eine Entscheidung im Ombudsmannverfahren; ebenso wenig ungeklärte grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen. Diese Konflikte sind den staatlichen Gerichten vorzubehalten. Abgesehen von dem Aufwand, den die Verbraucherstreitschlichtung in der Kürze des zur Verfügung stehenden Zeitrahmens von grundsätzlich 90 Tagen nicht leisten kann, ist das auch mit Rücksicht darauf so, dass bei einer den Versicherer bindenden Entscheidung diesem der Weg zu den Gerichten – mit seinen erweiterten Beweisführungsmöglichkeiten – versperrt wäre. Aber auch in diesen Fällen können wir den Beteiligten einen Schlichtungsvorschlag unterbreiten, der die Risiken eines etwaigen Prozesses miteinbezieht und für eine schnelle, aber dennoch interessengerechte Konfliktlösung auf Augenhöhe wirbt.
Laut Jahresbericht 2021 betrug die Zahl zulässiger Beschwerden rund 14.000. Wie viele davon gingen denn überhaupt zugunsten des Verbrauchers aus und warum sind etwa 4.000 Beschwerden von vornherein unzulässig?
Die Erfolgsquote liegt bei den zulässigen Beschwerden gegen Versicherer in der Lebensversicherung im Durchschnitt bei 29%, in den anderen Sparten bei etwa 45%. Unter Erfolg verstehen wir ein Ergebnis, das den Beschwerdeführer seinem Ziel wirtschaftlich näher bringt. Dazu gehören also neben Entscheidungen zugunsten des Beschwerdeführers auch Teilabhilfen oder ein Vergleich. Bei den Beschwerden gegen Vermittler, die nach einer eigenen Verfahrensordnung geführt werden, haben wir bei den zulässigen Beschwerden eine Erfolgsquote, die in den letzten Jahren zwischen 17% und 30% schwankt.
Unzulässig sind Beschwerden, wenn etwa zuvor der Anspruch noch nicht beim Versicherer geltend gemacht worden ist, wenn es kein eigener Anspruch aus einem Versicherungsvertrag gegen den Vertragspartner ist oder wenn es die private Kranken- oder Pflegeversicherung betrifft, die bekanntlich eine eigene Schlichtungsstelle hat. Auch in solchen Fällen können unsere Entscheidungen für die Kunden aber hilfreich sein, weil sie Hinweise für ihr weiteres Vorgehen erhalten.
Inwiefern kann der Ombudsmann denn bei den Versicherern Einfluss geltend machen, das Dickicht an Versicherungsbedingungen möglichst verbraucherfreundlich zu gestalten?
Der Einfluss auf die Fassung der Bedingungen kann nur ein mittelbarer sein. Wenn wir bei der Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass einzelne Klauseln unklar sind, dann geht das bei ihrer Auslegung bekanntlich nach der Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zulasten des Verwenders. Bestehen Zweifel, ob einzelne Bedingungen den Verbraucher unangemessen benachteiligen und deshalb möglicherweise unwirksam sind, dann bleibt eine solche Entscheidung zwar als rechtsgrundsätzlich den staatlichen Gerichten vorbehalten. Wir können das nicht aussprechen, sondern nur darauf hinweisen und einen Schlichtungsvorschlag unterbreiten. Es ist dann Sache des Versicherers, daraus etwaige Konsequenzen zu ziehen und die Bedingungen anders zu fassen.
Neben den Versicherern können sich Verbraucher beim Ombudsmann auch über Vermittler beschweren. In welchem Verhältnis befinden sich die Vermittlerbeschwerden im Vergleich zu den Unternehmensbeschwerden?
Wir haben traditionell deutlich weniger Vermittlerbeschwerden als Beschwerden gegen Unternehmen. Das liegt auch daran, dass dann, wenn Vermittlerhandeln in Rede steht, der Vermittler aber als Erfüllungsgehilfe eines Versicherers gehandelt hat, dem Unternehmen das Handeln des Vermittlers zuzurechnen ist. Deshalb führen wir solche Beschwerden als gegen das Unternehmen gerichtete, weil das für den Kunden günstiger ist. Denn zu seinen Gunsten können wir das Unternehmen verpflichten. Diese Möglichkeit haben wir gegenüber den Vermittlern nicht. Hier können wir nur Empfehlungen aussprechen. Mit anderen Worten: In den Beschwerden gegen Unternehmen stecken noch viele drin, die im Kern Vermittlerhandeln betreffen.
Worüber beklagen sich denn Verbraucher in ihren Vermittlerbeschwerden besonders häufig?
Oft geht es um behauptete oder wirkliche Beratungsfehler. Also um die Vermittlung nicht benötigten oder unpassenden Versicherungsschutzes.
In erster Linie handelt es sich beim Ombudsmann um eine Schlichtung zwischen Verbraucher und Versicherer. Inwiefern kann die Schlichtungsstelle Verbrauchern überhaupt bei Vermittlerbeschwerden weiterhelfen und wo liegen die Unterschiede im Vergleich zu den Versicherern?
Wie schon gesagt: Unsere Mitgliedsunternehmen haben uns die Befugnis eingeräumt, auch für sie bindend zu entscheiden. Die Vermittler sind zwar per Verordnung verpflichtet, am Schlichtungsverfahren teilzunehmen. Wir können jedoch in der Sache nur mit guten Gründen für eine Abhilfe werben, einen Vergleich vorschlagen oder, wenn das Vermittlerhandeln in Ordnung war, dem Kunden die Gründe erläutern und hoffen, dass unsere unabhängige Prüfung Befriedungswirkung hat. Hat der Kunde recht, hält er mit unserer gutachtlichen Stellungnahme eine von Expertise getragene Hilfe in Händen. Das kann es ihm erleichtern, sich darüber klar zu werden, ob er den Klageweg beschreitet. Übrigens: Auch Vermittler sind bei Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Kunden gut beraten, diesem den Vorschlag zu machen, die Sache durch den Ombudsmann beurteilen zu lassen.
Sie üben das Amt nun gut drei Jahre aus. Welche Erkenntnisse haben Sie in der Zeit beim Themenkomplex Verbraucherschutz in der Versicherungswirtschaft gewinnen können?
Es hat sich sehr viel getan in der Branche. Die Unternehmen haben durchweg ein effektives Kundenbeschwerdemanagement. Viele haben sich den Qualitätsstandards des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV) verpflichtet.
Auch die Vermittler mit ihren Verbänden, die übrigens in unserem Beirat vertreten sind, legen großen Wert auf eine kundengerechte Beratung. Dennoch zeigen die Beschwerdezahlen, dass es einen Bedarf auch an Schlichtung gibt, an alternativer Streitbeilegung, die den Prinzipien folgt: schnell, sachkundig, kostenfrei für die Verbraucher. Das ist ein großartiges, effektives Modell.
Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 08/2022, S. 92 ff., und in unserem ePaper.
Bild: Dr. h. c. Wilhelm Schluckebier, Versicherungsombudsmann e. V.
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können