Spätestens seit März 2016, als der wichtigste Leitzins der Eurozone, die sogenannte Hauptrefinanzierungsfazilität, auf 0% fiel, stecken die Eurozone und ihre Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer im Zinstief fest. Zum einen verfolgt die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer Nullzinspolitik eigene geldpolitische Ziele. Infolge der von Finanz- und Euroschuldenkrise insgesamt stark geschwächten Konjunktur im Euroraum stagnierte die Inflationsrate und verfehlte klar das EZB-Ziel von 2%. Gesamtwirtschaftlich betrachtet sollten die niedrigen Zinsen zum anderen die Investitions- und Konsumneigung von Unternehmen und privaten Haushalten stimulieren. Die EZB-Niedrigzinspolitik beabsichtigte also die Stabilisierung einer angemessenen Wirtschafts- und Preisentwicklung in den Euro-Staaten.
Festverzinsliche Wertpapiere stabilisierten Renditeerwartungen
Die Beobachtung sinkender Nominalzinsen ist weder ein regionales noch ein gegenwärtiges Phänomen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kann bereits seit Beginn der 1990-er Jahre insbesondere in den großen Wirtschaftsräumen USA und Europäische Union (EU) ein kontinuierlich rückläufiger Zinstrend registriert werden. Allerdings hat die EZB-Politik diese Entwicklung hin zu sinkenden Zinsen in jüngster Zeit entscheidend verstärkt – nicht ohne Folgen für festverzinsliche Staatsanleihen und Wertpapiere. Grundsätzlich stabilisierten diese Kapitalanlagen und ihre vergleichsweise hohe Verzinsung die Renditeerwartung bei Markteilnehmerinnen und -teilnehmern. Sie waren eine verlässlich kalkulierbare und damit sichere Basis vieler Versicherungslösungen wie einer betrieblichen oder privaten Altersvorsorge.
Zinsmindereinnahmen summieren sich auf viele Milliarden Euro
Die EZB hat für das Jahr 2018 selbst errechnet, dass durch ihre Ankaufprogramme die Zinsen für zehnjährige Wertpapiere im europäischen Durchschnitt um bis zu 1,4 Prozentpunkte gedrückt wurden. Diese geldpolitisch bedingte Minderverzinsung wirkt sich unmittelbar auf die Kapitalanlagen der deutschen Versicherer aus. Nach einer aktuellen Schätzung durch die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) sind demnach allein in Deutschland zwischen 2015 und 2020 durch die EZB-Zinspolitik mindestens 100 Mrd. Euro an Zinsmindereinnahmen entstanden, die sich auf die Bereiche der Lebensversicherung, der bAV und der privaten Krankenversicherung verteilen. Außerdem haben als direkte Konsequenz der Nullzinsen Anlegerinnen und Anleger verstärkt damit begonnen, weitere Asset-Klassen wie Aktien oder Immobilien in ihr Portfolio zu integrieren.
Niedrigzinsen erschweren Altersvorsorge für Versicherte und Unternehmen
Aufgeschlüsselt auf die einzelnen Versicherungssparten veröffentlichte die DAV nun in „Aktuar aktuell“ vom Dezember 2021 folgende Zinsmindereinnahmen: In der Lebensversicherung summieren sich die Mindererträge auf mindestens 77,5 Mrd. Euro. Diese resultieren aus 25,6 Mrd. Euro bis 2020 und weiteren 52 Mrd. Euro aus den zu diesen niedrigen Zinssätzen bereits getätigten Kapitalanlagen in den kommenden neun Jahren; viel Geld, das für die Überschussbeteiligung und damit für die aufzubauenden Mittel der Altersvorsorge der Versicherten fehlt. Bei den Krankenversicherern belaufen sich die Mindereinnahmen auf etwa 15,6 Mrd. Euro. Im bAV-Bereich liegen nach DAV-Angaben nur sehr grobe Schätzungen über die Höhe und Verteilung der Kapitalanlagen vor. Allerdings ist auch hier von erheblichen Zinsverlusten auszugehen. Die DAV schlussfolgert daher: „Diese Zinsmindereinnahmen durch die EZB-Zinspolitik erschweren die Altersvorsorge der Bürgerinnen und Bürger. Im Bereich der arbeitgeberfinanzierten betrieblichen Altersversorgung belasten diese Mindereinnahmen zusätzlich die deutschen Unternehmer, wenn diese Leistungszusagen erteilt haben, deren Erfüllung aufgrund der ausbleibenden Zinserträge zusätzliche Finanzierungsbeiträge vonseiten der Unternehmen erfordert.“
Zinstief erzwingt höhere Zinszusatzreserve
Außerdem wirkt sich die Nullzinspolitik der EZB auch negativ auf die seit 2011 bestehende Zinszusatzreserve in der Lebensversicherung aus. Nach Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) e.V. betrug diese Reserve Ende 2020 etwa 87 Mrd. Euro. Die DAV kommt in ihren Berechnungen nun zu dem Ergebnis, dass sich auf Basis konservativer Schätzungen diese Zinszusatzreserve ohne diese massiven geldpolitischen Maßnahmen nur auf etwa 61 Mrd. Euro beziffern würde. „Zur Absicherung der Zinsverpflichtungen gegenüber den Versicherungsnehmern infolge der expansiven Geldpolitik der EZB ist die deutsche Lebensversicherungsbranche also gezwungen worden, etwa 26 Mrd. Euro mehr für die Zinszusatzreserve aufzubringen, als bei einer Zinsentwicklung ohne Markteingriffe der EZB notwendig gewesen wäre“, resümiert dazu die DAV.
Auch Versicherungsprodukte werden teurer
Abschließend ermittelte die DAV-Studie die Verteuerung von Versicherungsprodukten für Versicherte infolge des geldpolitischen Rahmens in der Eurozone. Nach den Berechnungen führt ein zinspolitisch bedingter Rückgang des Rechnungszinses um einen Prozentpunkt für einen heute 30-Jährigen zu einem Beitragsanstieg für eine Krankenvollversicherung von ca. 8%, für eine Risikolebensversicherung bis Alter 67 Jahre von etwa 9%, für eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung bis Alter 67 Jahre von ca. 12% oder für eine Pflegeversicherung sogar von etwa 34%. Diese Preisanstiege gefährdeten nach DAV-Aussagen zunehmend eine nachhaltige private Vorsorge mit zusätzlichen Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Trotz dieser gesamtwirtschaftlich sicher berechtigten EZB-Zinspolitik ergeben sich also für Versicherer und Versicherte in Deutschland auch erhebliche nachteilige Effekte. (as)
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