Ein Artikel von Prof. Dr. Ingo Hamm, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt
„Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“ Dieser Satz von Albert Camus mag auf den ersten Blick absurd erscheinen. Schließlich ist Sisyphos dazu verdammt, einen Fels immer wieder einen Berg hinaufzurollen, nur um ihn dann wieder hinunterrollen zu sehen. Doch genau hier liegt der Kern der Aussage: Es geht um die Akzeptanz der Aufgabe, um die Freude am Tun selbst, ohne den Anspruch auf einen höheren Sinn. Eine Sichtweise, die auch in der modernen Arbeitswelt neue Relevanz gewinnt. Denn zwischen dem Wunsch nach individueller Freiheit und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, zwischen materiellen Anreizen und intrinsischer Motivation, zwischen New-Work-Utopien und der Realität des Arbeitsalltags scheint die Lust am Machen oft verloren zu gehen.
Haben wir verlernt, uns an der Arbeit zu erfreuen? Überall ist die Rede von New Work, flachen Hierarchien und Vier-Tage-Woche. Die neuen Arbeitsmodelle haben durchaus ihre Berechtigung. Sie können – richtig implementiert – die Work-Life-Balance verbessern, die Eigenverantwortung stärken und die Kreativität fördern. Doch sie bergen auch eine Gefahr: Nämlich die Vernachlässigung des menschlichen Bedürfnisses nach Gemeinschaft, nach geteiltem Erfolg und dem Stolz, Teil von etwas Größerem zu sein.
Von Freiheiten und Teamgeist
Nicht nur die Versicherungswirtschaft ist geprägt von Digitalisierung, neuen Wettbewerbern und dem stetigen Ruf nach mehr Effizienz. Da liegt der Gedanke nahe, die „Flexibilisierung“ auf die Spitze zu treiben, die Mitarbeiter ins Home-Office zu schicken und ihnen maximale Freiheit zu gewähren. Und auch im schicken neuen Büro ist alles „flex“, der eigene Schreibtisch längst passé. Es gibt zwar guten Espresso en masse, aber wenig Ruhe, viele mühsam kondensierte Meetings und dauernd Kollegen, die „ausgerechnet nicht da sind, wenn ich mal im Büro bin“. Hier lauert die Gefahr der Isolation, der Sinnentleerung – der „professionellen Einsamkeit“, nicht nur im Home-Office, sondern auch im zerhackten, neuen, agilen Projektgeschäft. Die Frage lautet also: Was nützen neue Freiheiten, wenn die Arbeit selbst keine Freude mehr bereitet, wenn der Austausch mit Kollegen fehlt und der Sinn des eigenen Tuns im Nebel der Anonymität verschwindet?
Hinzu kommt ein grundlegendes Dilemma: Unternehmen – auch und gerade in der Versicherungsbranche – sind auf Zusammenarbeit, auf Teamgeist und eine gemeinsame Kultur angewiesen. Nur so entstehen Innovationen, lassen sich komplexe Aufgaben bewältigen. Doch wie lassen sich diese zentralen Bedürfnisse mit dem Wunsch nach individueller Freiheit und Selbstbestimmung in Einklang bringen? Die Antwort liegt in einer neuen Leistungskultur, die die Bedürfnisse von Unternehmen und Mitarbeitern gleichermaßen berücksichtigt. Diese neue Leistung ist Psychologie, nicht Ökonomie. Sie baut auf eine Kultur, die nicht auf Kontrolle und Anweisung setzt, sondern auf Vertrauen und Eigeninitiative. Eine Kultur, die die einzigartigen Talente und Fähigkeiten jedes Einzelnen wertschätzt und gleichzeitig den Wert von Gemeinschaft und Zusammenarbeit in den Vordergrund stellt.
Warum Talentförderung auf Fakten basieren muss
Ein wichtiger Baustein dieser neuen Leistungskultur ist die Talentförderung: eine, die sich auf Kompetenzen und nützliche, konkrete Erfahrungen fokussiert, in denen Talente gezeigt haben, dass sie einen nachweisbaren Impact erzeugen können. Doch auch hier scheinen sich Wunsch und Wirklichkeit oft zu widersprechen. Da ist die Rede von „Potenzialentfaltung“ und der Suche nach „Hidden Champions“. Hand aufs Herz: Wie oft entpuppen sich diese „verborgenen Potenziale“ als schwammige Hoffnungsträger, die im Dschungel der Arbeitswelt schnell den Anschluss verlieren? Die Lösung liegt, so ernüchternd es klingen mag, in der Konzentration auf nachweisbare Fähigkeiten und Talente: Wo liegen die nachweislichen Stärken? Und wie lassen sich diese im Unternehmen optimal einsetzen und fördern? Es geht nicht um die vage Hoffnung auf schlummernde Potenziale, sondern um die konsequente Förderung von bereits vorhandenen Kompetenzen. Nur so entsteht echte Wertschätzung seitens der Beschäftigten, nur so entwickelt sich echter Werkstolz bei den Talenten selbst. Und nur so entsteht am Ende auch echter Erfolg, für den Einzelnen und für das Unternehmen.
Falle der „Über-Incentivierung“: Warum materielle Anreize oft das Gegenteil bewirken
Der Wettkampf um die besten Köpfe ist in vollem Gange. Und die Waffen der Wahl sind oft – man kann es nicht anders sagen – goldene Ketten: modernste Firmenwagen, satte Boni, flexible Arbeitszeitmodelle, Home-Office, Fitnessstudiozuschüsse, Hunde am Arbeitsplatz – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Doch ist dieser Fokus auf materielle Anreize wirklich der richtige Weg, um Mitarbeiter langfristig zu binden und zu motivieren? Psychologische Studien zeigen: eher nicht. Denn was auf den ersten Blick verlockend erscheint, kann schnell zum Rohrkrepierer werden. Wer sich nur des Geldes oder der Benefits wegen für ein Unternehmen entscheidet, wird sich schnell nach neuen, noch besseren Angeboten umsehen. Die intrinsische Motivation, also die ursprüngliche Freude an der Arbeit selbst, wird überdeckt von eigentlich unnötigen Anreizen. Und schließlich fangen die gepamperten Mitarbeitenden gar nicht mehr ohne materiellen Incentive an zu arbeiten, selbst wenn sie den Job ursprünglich gerne gemacht haben. Dabei vergessen viele Unternehmen: Menschen wollen nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen. Sie wollen etwas bewirken, sich einbringen, ihre Fähigkeiten nutzen und dabei auch noch Spaß haben. Kurzum: Sie suchen nach Sinn und Erfüllung in ihrer Arbeit. Zumindest macht ein solches Menschenbild die Sache mit dem Fachkräftemangel leichter. Hier liegt die Chance für Unternehmen, die im „War for Talents“ bestehen wollen. Statt auf immer neue materielle Anreize zu setzen, sollten sie sich auf die Schaffung einer Arbeitsumgebung konzentrieren, die intrinsische Motivation fördert. Das heißt:
- Sinnhafte Aufgaben: Mitarbeiter müssen das Gefühl haben, dass ihre Arbeit einen Unterschied macht und zum Erfolg des Unternehmens beiträgt. Es muss nicht gleich die große Weltverbesserung sein, sondern das kleine, aber konkrete Wirken und Bewirken im unmittelbaren Umfeld.
- Eigenverantwortung und Gestaltungsspielräume: Mitarbeiter blühen auf, wenn sie ihre Fähigkeiten einbringen und ihren Arbeitsbereich aktiv mitgestalten können – indem man ihnen vertraut.
- Wertschätzung und Anerkennung: Ein ehrliches Lob, ein Dankeschön oder die Wertschätzung der eigenen Leistung sind oft mehr wert als jeder Bonus. Es ist nicht der Blumenstrauß vom Chef, sondern die echte Begeisterung der Führungskraft, dass sie den Arbeitsbeitrag der Mitarbeitenden wirklich wertschätzt.
- Gemeinschaft und Teamgeist: Der Austausch mit Kollegen, das Gefühl, Teil eines Teams zu sein und gemeinsam Ziele zu erreichen, sind wichtige Motivationsfaktoren. Es geht dabei nicht schlicht um Spaß bei der Arbeit, sondern um eine Gruppe von Menschen, die sich kennen und sich gegenseitig Anerkennung und Vertrauen entgegenbringen.
Auf dem Weg zu einer neuen Leistungskultur
Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Neue Technologien, veränderte Wertvorstellungen und der demografische Wandel stellen Unternehmen vor große Herausforderungen. Doch gerade in solchen Zeiten ist es wichtiger denn je, dass wir die urmenschliche „Lust am Machen“ nicht aus den Augen verlieren. Die Zukunft gehört Unternehmen, die es schaffen, eine Arbeitskultur zu etablieren, die sowohl den Bedürfnissen der Mitarbeiter als auch den Anforderungen des Marktes gerecht wird. Eine Kultur, die auf Vertrauen, Eigenverantwortung und Sinnhaftigkeit basiert. Eine Kultur, die es den Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten einzubringen, sich weiterzuentwickeln und gemeinsam erfolgreich zu sein.
Gerade in diesem Wandel liegt auch eine große Chance: die Chance, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren und die besten Köpfe für sich zu gewinnen, die Chance, eine neue Leistungskultur zu prägen, die von Freude, Engagement und dem Stolz auf die gemeinsame Leistung geprägt ist.
Über Prof. Dr. Ingo Hamm
Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt, war McKinsey-Berater und Manager in einem Dax-Konzern. Zudem berät er Menschen und Organisationen bei den Herausforderungen der neuen Arbeitswelt und ist Autor diverser Sachbücher.
Diesen Beitrag lesen Sie auch in AssCompact 12/2024 und in unserem ePaper.
Bild: © rudall30 – stock.adobe.com

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