Interview mit Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte, und Fabian von Löbbecke, Vorstand HDI Lebensversicherung AG
Herr Jöhnke, in der Berufsunfähigkeit kann es zu konkreten Verweisungen durch den Versicherer kommen – aus rechtlicher Sicht ein Streitpunkt bei der Leistungsprüfung. Welche praktischen Erfahrungen haben Sie gesammelt?
Björn Thorben M. Jöhnke Der „Fallstrick der konkreten Verweisung“ kann in der Praxis immer dann vorkommen, wenn der Versicherte, der grundsätzlich Anspruch auf BU-Leistungen hat, wieder eine Tätigkeit aufnimmt. Diese Verweisungsthematik kommt in der anwaltlichen Praxis äußerst häufig vor, so dass nicht selten BU-Versicherungen wieder leistungsfrei werden. Fragen rund um die Beweis- und Darlegungslast gewinnen dann an Bedeutung. Aus diesem Grund ist ein Verzicht auf die konkrete Verweisung nicht nur wünschenswert, sondern auch versichertenfreundlich.
Inwiefern stellt das Thema „konkrete Verweisung“ eine Haftungsgefahr für Versicherungsmakler dar?
BJ Grundsätzlich hat die konkrete Verweisung erstmal nichts mit einer möglichen Haftung des Versicherungsmaklers zu tun. Denn ob Versicherte irgendwann eine Tätigkeit wieder aufnehmen und der Versicherer deswegen die Leistungen einstellen kann, fällt grundsätzlich nicht in die „Sphäre des Maklers“. Jedoch sollte bei der Beratung des Kunden bzw. bei der Vermittlung von Versicherungsschutz die jeweils passenden Versicherungen bzw. Versicherungstarife dem Kunden angeboten werden. Und an dieser Stelle könnte sich natürlich eine mögliche Haftungsthematik für Versicherungsmakler ergeben.
Was heißt das genau?
BJ Versicherungsmakler haben den Bedürfnissen des Kunden entsprechend Versicherungsschutz anzubieten bzw. zu empfehlen. Makler sollten sich also stets mit den Neuerungen beschäftigen, die von Versicherer angeboten werden. Gibt es zum Beispiel Verbesserungen in den Bedingungswerken, sollten Makler diese Neuerungen prüfen und mit in die Beratung der Kunden nehmen. Werden für den Kunden vorteilhafte Bedingungswerke bzw. der entsprechende Versicherungsschutz nicht vermittelt, kann es sein, dass der Kunde dem Versicherungsmakler im möglichen Schadenfall vorwirft, dass es zum Zeitpunkt der Beratung einen passenderen Versicherungsschutz gegeben hätte – eine Haftungsgefahr könnte entstehen.
Herr von Löbbecke, zum Jahresbeginn ist HDI mit dem Verzicht auf konkrete Verweisungen in der BU-Vor- und Nachprüfung mit einem Novum im Markt gestartet. Welche Ziele verfolgt HDI als Versicherer damit?
Fabian von Löbbecke Die Verweisungsregelungen im gesamten Versicherungsmarkt sind bzw. waren bis zum Jahreswechsel äußerst komplex. Da gibt es zum einen die abstrakte Verweisung, auf die glücklicherweise weitgehend verzichtet wird, und zum anderen die konkrete Verweisung. Mit der Erstprüfung und der Nachprüfung entstehen wiederum unterschiedliche Aspekte der Verweisung, die das Potenzial haben, sehr komplexe Regelungen aufzustellen, was für Kunden und so manchen Vertriebspartner weder transparent noch nachvollziehbar war. Darüber hinaus führt die konkrete Verweisung im BU-Markt zu vielen Gerichtsprozessen, was das Vertrauen in die BU kundenseitig negativ beeinflussen kann. Obwohl wir in unserer Berufsunfähigkeitsversicherung EGO Top bereits seit 1998 auf die konkrete Verweisung in der Erstprüfung verzichten – übrigens ein Alleinstellungsmerkmal unter den BU-Anbietern – haben wir dennoch die Notwendigkeit gesehen, diese Komplexität für alle Beteiligten zu beseitigen. Das vereinfacht den Prozess für unsere Kunden, unsere Vertriebspartner und auch für uns als Versicherer ergeben sich Vorteile.
Um maximale Verständlichkeit und Einfachheit zu gewährleisten, verzichten wir seit Anfang 2024 vollständig auf die Verweisung in unserer BU – also sowohl auf die abstrakte als auch die konkrete Verweisung in der Erst- und in der Nachprüfung. Damit schaffen wir für alle Beteiligten Klarheit und vor allem Sicherheit in einer wichtigen Frage.
Und welchen Mehrwert bietet die HDI-Neuerung für Interessenten und gilt die neue Klausel auch für Bestandskunden?
FvL Der vollständige Verzicht auf Verweisungen gilt für alle BU-Verträge, die ab dem 01.01.2024 abgeschlossen wurden. Diese Neuerung beinhaltet sowohl für unsere Kunden als auch für unsere Vertriebspartner eine Reihe konkreter praktischer Vorteile. Unterm Strich reduzieren wir die Komplexität, denn unsere Regelung ist einfach, fair und transparent. Für unsere Kunden bedeutet dieser Verzicht, dass sie sich einer beruflichen Umorientierung widmen können, ohne Konsequenzen für ihre BU-Rente befürchten zu müssen. Selbst wenn es in der Praxis zuvor aufgrund der zu erfüllenden Voraussetzungen nicht immer zu einer Verweisung gekommen wäre, sorgt der vollständige Verzicht nun für Klarheit, rechtliche Sicherheit und Transparenz.
Durch den vollständigen Verweisungsverzicht entfallen im Beratungsgespräch für eine HDI BU die Erläuterungen dieses komplexen Themas aus dem einfachen Grund, weil sie bei EGO Top keine Rolle mehr spielen. Das vereinfacht die Beratung und bietet Vertriebspartnern einen echten Mehrwert.
Für welche Zielgruppe ist diese Neuerung im Tarifwerk von HDI denn besonders vorteilhaft?
FvL Wir machen keine Einschränkung hinsichtlich des ausgeübten Berufs, daher profitieren alle Berufe, die wir in unserer Berufsunfähigkeitsversicherung absichern von dieser Neuerung.
„Erkauft“ sich der Versicherte den Verzicht auf konkrete Verweisungen durch Anpassungen bei den Prämien oder den Gesundheitsfragen?
FvL Keineswegs. Die Entscheidung haben wir sorgsam durchdacht. Dabei war uns von vorneherein wichtig, dass diese Leistungsverbesserung nicht zulasten der Prämien und der Gesundheitsfragen gehen darf. Ich will es auch gerne deutlicher sagen: Wir erheben keine Zusatzprämien, zumal der vollständige Verweisungsverzicht ein obligatorischer Bestandteil unserer EGO Top ist. Somit behalten alle Prämien aus dem Vorjahr ihre Gültigkeit. Eine Anpassung der Prämien haben wir zum Jahreswechsel 2023/2024 allein im Rahmen diverser Besserstellungen, z. B. für verschiedene Arztberufe, vorgenommen.
Herr Jöhnke, welche Folgen hat denn etwa ein Verzicht auf die konkrete Verweisung für Versicherungsmakler in der Beratung?
BJ Wie bereits ausgeführt dürfte Versicherungsmaklern anzuraten sein, sich mit den Neuerungen „am Versicherungsmarkt“ zu beschäftigen und Verbesserungen in den Bedingungswerken mit in die Beratung zu nehmen. Insbesondere sollten Versicherungsmakler auch über die Möglichkeiten und Konsequenzen der jeweiligen Regelungen des Versicherungsvertrages mit den Kunden sprechen und erklären, was die Vorteile und die Nachteile sind. Bei einem Verzicht auf die konkrete Verweisung dürfte es sich um eine wichtige und grundsätzliche Verbesserung handeln. Denn ein solcher Verzicht stellt eine nicht unbeachtliche Besserstellung für Versicherte im Leistungsfall dar, über welche ein Versicherungsmakler durchaus mit seinen Kunden sprechen sollte.
Das heißt, in der Beratung kommt der Makler nicht mehr an einer Empfehlung des HDI-Tarifs vorbei?
BJ Nun, bei dem vollständigen Verzicht auf die konkrete Verweisung handelt es sich nach meinem Dafürhalten um ein Novum, welches für Versicherte durchaus eine Besserstellung bedeuten kann. Aus diesem Grunde sollten sich Versicherungsmakler die neuen Versicherungsbedingungen konkret anschauen und im Bedarfsfall den Kunden vorstellen. Es ist davon auszugehen, dass viele Kunden von dieser Besserstellung Gebrauch machen möchten. Auch unter Anbetracht eines möglichen Haftungsszenarios sollten sich Versicherungsmakler mit diesen Neuerungen intensiv vertraut machen.
Allerdings dürfte ein Verzicht auf eine konkrete Verweisung nicht das einzige Kriterium für oder gegen einen konkreten Versicherungsschutz sein. Der Versicherungsschutz muss darüber hinaus je nach den Kundenwünschen und -bedürfnissen auch anhand weiterer Tarifmerkmale geprüft und natürlich nicht zuletzt auch anhand der Versicherungsprämie beurteilt werden.
Bild: © alesmunt – stock.adobe.com
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