Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat am 07.06.2021 ein Gutachten zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vorgestellt. Darin prognostiziert der Beirat ab 2025 „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“. Nach Ansicht der Experten sei eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung unumgänglich. Nur so könne verhindert werden, dass das Rentenniveau deutlich absacke oder der Beitragssatz drastisch steige.
Nachhaltigkeitsfaktor ausgehebelt
Der Beirat kritisiert in seinem Gutachten die Aushebelung des 2005 eingeführten Nachhaltigkeitsfaktors in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Nachhaltigkeitsfaktor beeinflusst die Rentenformel je nachdem, wie sich das Verhältnis von Rentenbeitragszahlern zu Rentenbeziehern verändert. Die festgelegten Haltelinien von mindestens 48% für das Rentenniveau und maximal 20% für den Rentenbeitragssatz hätten nach Ansicht der Beiratsmitglieder zu der Illusion geführt, höhere Beiträge oder eine niedrigere Rente könnten sich dauerhaft vermeiden lassen. Die Einführung der Mütterrente, der Grundrente und schließlich der „Rente ab 63“ hätten das Rentensystem dann finanziell noch weiter belastet.
Haltelinien führen ab 2026 zu Problemen
Sollte der Nachhaltigkeitsfaktor ab 2026 wieder greifen – wie es gesetzlich vorgesehen ist – stünde die Politik vor einem Dilemma. Der Beitragssatz müsste dann nämlich stark steigen und das Sicherungsniveau gleichzeitig fallen. Um die Haltelinien fortzuführen, könnten alternativ auch die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkasse angehoben werden. „Das ginge zulasten von Zukunftsinvestitionen“, wie Prof. Klaus M. Schmidt von der LMU München konstatierte „und würde die Tragfähigkeit unseres Sozialsystems untergraben.“
Bundeszuschüsse müssten drastisch zunehmen
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums rechnet vor, dass 2040 bereits 44% des gesamten Bundeshaushalts in die gesetzliche Rentenversicherung fließen müssten, wenn die Haltelinien nicht infrage gestellt werden sollten. 2060 wären es sogar über 55%, während die Zuschüsse in die Rentenkasse im Jahre 2019 bereits 26% ausgemacht hatten.
Aussetzung des Nachholfaktors ist Belastung
Diese Effekte werden unter anderem durch die bekannte demografische Entwicklung in Deutschland befeuert, die gerade im Zusammenhang mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge zu Problemen im Rentensystem führt. Auch die Aussetzung des Nachholfaktors (nicht zu verwechseln mit dem Nachhaltigkeitsfaktor) belaste das System. Der Nachholfaktor sorgt dafür, dass nicht erfolgte Rentenkürzungen – die rechnerisch eigentlich notwendig gewesen wären – mit zukünftigen Rentenerhöhungen verrechnet werden.
Renteneintritt an Lebenserwartung koppeln
Neben der Wiedereinführung des Nachholfaktors schlägt der Beirat vor, das Renteneintrittsalter dynamisch an die Lebenserwartung zu koppeln. Dementsprechend würde das Verhältnis zwischen in Arbeit und in Rente verbrachter Lebenszeit konstant bleiben. Dadurch ergäbe sich im Jahr 2042 ein Renteneintrittsalter von 68 Jahren.
Flexibilisierung des Renteneintrittsalters
Gleichzeitig schlagen die Beiratsmitglieder eine Ausnahme für Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor. Sie sollen früher in Rente gehen können. Parallel dazu regt der Beirat an, Arbeitswilligen im Rentenalter ein Weiterbeschäftigungsrecht einzuräumen, um zu verhindern, dass sie aus tarifvertraglichen Regeln in die Rente gezwungen werden.
Im Detail weitere Maßnahmen empfohlen
Außerdem schlägt der Beirat noch weitere technische Maßnahmen vor, mithilfe derer die Haltelinien in Rentenniveau und Beitragssatz aufrechterhalten werden können. Sie sollen jedoch nur noch für einen Teil der Rentenleistungen greifen
Widerspruch aus Parteien und Gewerkschaften
Vertreter von Grünen, Linkspartei, SPD und Gewerkschaften stehen einem Bericht des Handelsblatts zufolge einer Anhebung des Renteneintrittsalters kritisch gegenüber. Auch der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zeigte sich gegenüber der Bild-Zeitung für eine Debatte über das Renteneintrittsalter nicht offen.
Scholz spricht Wissenschaftlichem Beirat ab, Experten zu sein
Olaf Scholz ging mit den Aussagen des Wissenschaftlichen Beirats hart ins Gericht. Auf einer Veranstaltung des SPD-Wirtschaftsforums sagte er: „Die Vorschläge dieses sogenannten Expertengremiums sind falsch gerechnet und unsozial. Das sind alles Horrorszenarien, mit denen Rentenkürzungen begründet werden sollen, für die es keinen Anlass gibt. […] Ich freue mich auf eine Debatte mit echten Experten.“
Clemens Fuest fordert Belege
Der Präsident des ifo-Instituts, Clemens Fuest, fordert von Olaf Scholz derweil Belege für den Vorwurf der Falschberechnung. Das geht aus mehreren Wortmeldungen des Ökonomen zu dem Thema auf Twitter hervor. Fuest verweist im Zusammenhang mit der Thematik auch auf ein weiteres Gutachten aus dem von Olaf Scholz geführten Bundesfinanzministeriums, in dem die Gutachter zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie ihre Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium. (tku)
Das Gutachten aus dem Bundeswirtschaftsministerium ist hier zu finden.
Bild: © Thomas Reimer – stock.adobe.com
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Leserkommentare
Comments
Renteneintritt nach wahrscheinlicher Lebenserwartung - nein dank
+++Koppelung an Lebenserwartung - was für Schwachsinn+++
Zukünftig weiß also die Rentenkasse wie alt ich werde und berechnet mir daraufhin die Renteneintrittszeit.
Schon die Versicherungswirtschaft legt die Zahlen sehr "lebensbejahend" aus, was sich in der höhe
monatlichen Rentenzahlung niederschlägt, die dadurch natürlich niedriger ausfällt als sie es müsste.
Warum man dies immer so kompliziert gestalten muss, sicherlich wurde für das Gutachten auch wieder
tief bis sehr tief in die Tasche gegriffen, ist die nächste Frage.
Einfache pragmatische Lösung: die Lebensarbeitszeit! Wer nach seiner Realschulzeit 16/17 seine Lehre beginnt, der arbeitet
schon heute 50 Jahre bis zur Rente. Wer dem gegenüber Gymnasium & Studium wählt, der beginn erst mit 25 Jahren & später ins
System einzuzahlen. 50 Jahre bedeuten hier bis zum 75. tätig zu sein. Das mit dem höheren Bildungsabschluss ein höheres Einkommen,
sowie eine u.U. körperlich leichtere Tätigkeit verbunden ist und somit geringerer körperlicher Verschleiß einhergeht, würde es
dem Akademiker somit weniger schwer fallen im hohen Alter tätig zu sein, andererseits das bessere Einkommen generell einen früheren
Ausstieg aus dem Arbeitsleben ermöglichen.
Ergebnis: die einen müssen nicht länger als 50 Jahre schaffen, die anderen brauchen es womöglich nicht...
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können