Artikel von Prof. Dr. rer. pol. Matthias Müller-Reichart, Studiengangleitung Insurance and Banking, und Kim Vanessa Graumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Risikomanagement der Wiesbaden Business School, sowie Daniel Haisch, Director Marketing & Customer Experience Management der Europ Assistance Services GmbH
Die Versicherungswirtschaft in Deutschland ist angesichts ihrer umfassenden Abdeckung gewerblicher, beruflicher und privater Risiken ein Wirtschaftsfaktor mit millionenfachen Kundenkontaktpunkten. Laut Statistischem Bundesamt unterhielten im Jahre 2021 40,7 Millionen private Haushalte, 3,03 Millionen steuerpflichtige Unternehmen und 83,2 Millionen Bundesbürger immerhin 464,8 Millionen Versicherungsverträge (vgl. de.statista.com/statistik/daten). Jeder Bundesbürger besaß somit im Durchschnitt knapp sechs Versicherungsverträge und befand sich dergestalt in einer engen Kundenbeziehung zu einem oder mehreren Versicherungsunternehmen. Angesichts der quantitativen Bedeutung dieser vertraglichen Beziehungen vermag es immer wieder zu überraschen, dass Versicherungsnehmer keinerlei Bindung oder Beziehung zu ihrem Versicherungsunternehmen aufbauen – wenn überhaupt, besteht diese zum betreuenden Versicherungsvermittler. Zumal Versicherungsprodukte wahrlich keine „Pull-Produkte“ sind (für den Erwerb eines Versicherungsproduktes reihen sich die Menschen nicht am Vorabend des Verkaufs in lange Schlangen ein), müssen sie als „Push-Produkte“ aktiv, teilweise aggressiv verkauft werden, womit die Voraussetzungen zur Schaffung einer emotionalen Kundenbindung denkbar schlecht sind. Diese Schwäche in der Kundenbeziehung ermöglicht externen Anbietern ohne Hürden einen kurzfristigen, erfolgreichen Markteintritt – bestes Beispiel sind die respektablen Stückzahlen der Kfz-Versicherungsverträge von Tesla Insurance.
Kundenbindung kann nur durch eine wahrnehmbare, nachhaltige Kundenorientierung, im Idealfall durch eine Kundenzentrierung geschaffen werden. Ein kundenzentrierter Ansatz stellt sicher, dass die Bedürfnisse und Erwartungen der Versicherungsnehmer nicht nur erfüllt, sondern übertroffen werden. Hierzu muss der Versicherungsnehmer im Mittelpunkt einer durch das Versicherungsvertragsverhältnis ermöglichten, dauerhaften Problemlösungsbeziehung stehen. Angesichts eines für den Kunden schwer nachvollziehbaren Rechtsverhältnisses eines „abstrakten Dauerschutzversprechens“ (juristische Umschreibung eines Versicherungsvertrags) kann der Versicherungsvertrag diese Kundenzentrierung leider nicht bieten – demgegenüber können die mit dem Vertrag einhergehenden Assistance- und Serviceleistungen sehr wohl die individuelle Kundenzentrierung und damit eine Kundenbindung ermöglichen. Versicherungsunternehmen, die den Kunden mittels Assistance- und Serviceleistungen in den Mittelpunkt stellen, verstehen nicht nur die Bedürfnisse ihrer Kunden, sondern bieten individuelle Lösungen und einen außergewöhnlichen Service an, um Erwartungen zu übertreffen. Wenn Versicherungsnehmer sich in ihren individuellen Problemen verstanden, wertgeschätzt und angehört fühlen, bleiben sie dem Versicherungsunternehmen eher treu (Bildung eines akquisitorischen Potenzials) und empfehlen es an ihr Netzwerk weiter.
Kernelemente zur Gestaltung einer kundenbindenden Customer Journey
Service- und Assistance-Angebote bilden somit Kernelemente der Kundenzentrierung zur Gestaltung kundenbindender Customer Journeys ab. Zur Ermittlung der tatsächlichen Kundennachfrage nach derartigen Assistance- und Servicebestandteilen sowie des am Markt befindlichen Angebots dieser Zusatznutzen stiftenden Elemente führt die Europ Assistance SA, Niederlassung für Deutschland, seit mittlerweile 16 Jahren mit dem Assistance Barometer eine repräsentative, bundesweite und vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft anerkannte Assistance-Studie durch. Der „Kümmerer-Aspekt“ der Assistance ist im Versicherungswesen beispielgebend für die Ermöglichung einer Kundenzentrierung und einer darauf aufbauenden nachhaltigen Kundenbindung.
Eine konstant hohe Serviceerwartung der deutschen Haushalte zeigte sich im aktuellen Assistance Barometer 2023. Während vor einigen Jahren noch 15% bis knapp 25% der Haushalte keine Serviceerwartungen äußerten, konnte sich dieser ablehnende Wert über die letzten Jahre deutlich verringern und nimmt im Jahre 2023 wieder ein Acht-Jahres-Minimum von 5,2% ein. Nur 5% der Haushalte sind Service- und Hilfsleistungen nicht wichtig – 95% der Haushalte bekunden dagegen eine Servicenachfrage. Die über 500 an der aktuellen Studie teilnehmenden Haushalte wurden zudem gebeten, ihre Serviceerwartungen gegenüber Anbietern von Dienstleistungen zu äußern (von welchen Dienstleistern/Institutionen erwarten die Bundesbürger Service- und Hilfsleistungen). Aktuell sind nur 6% der Haushalte mit dem bestehenden Serviceangebot von Dienstleistern rundum zufrieden und vermissen keinerlei Unterstützung. Bedenkt man, dass in den Jahren 2011 und 2012 diese Zufriedenheitsquote noch bei 35% lag, lässt sich eine deutliche, mittlerweile konstant hohe Serviceunzufriedenheit in den vergangenen Jahren konstatieren. 94% der privaten Haushalte erwarten somit besondere Service-, Unterstützungs- und Hilfsleistungen von ihren Dienstleistern.
Von Versicherungen und Banken erwarten seit einigen Jahren konstant knapp zwei Drittel (aktuell 63%) der befragten Haushalte Service- und Hilfsleistungen. Die Mittelwerte der Serviceerwartung in den vergangenen 15 Jahren lagen bei Versicherungen bei 49%, bei Banken bei 50% der privaten Haushalte. Innerhalb von 14 Jahren hat sich der Serviceerwartungswert der privaten Haushalte bei Versicherungen und Banken von elf Prozentpunkten im Jahre 2010 auf nun 63 Prozentpunkte im Jahre 2023 erhöht. Demgegenüber fordern deutlich gestiegene 85% der Befragten von ihren Krankenkassen Service- und Hilfsleistungen ein (Mittelwert der Vorjahre 65%). Bei Telefonanbietern zeigt sich eine Serviceerwartung von 51%, bei Energieanbietern von 37%, bei Online-Händlern von 44% und bei Automobilhändlern von 41% der Bevölkerung. Von Arbeitgebern erwarten 38% der privaten Haushalte besonderen Service.
Versicherer erkennen die Bedeutung innovativer Assistance-Leistungen
Im aktuellen Assistance Barometer 2023 wurde erneut eine repräsentative Anzahl deutscher Versicherungskonzerne und Einzelgesellschaften zur Einschätzung von Assistance-Leistungen befragt. Die Bedeutung der Assistance für das Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft, insbesondere für Aspekte der Kundenzentrierung und Kundenbindung, wird in der mittlerweile sechzehnjährigen Befragungshistorie auf konstant hohem, gegenüber den letzten Jahren nochmals ansteigendem Niveau bewertet. Im Jahre 2023 wird die Bedeutung dieser Serviceleistung seitens der Versicherungswirtschaft mit überzeugenden 90% als sehr hoch oder hoch eingeschätzt, womit die große Mehrheit der deutschen Versicherer der Assistance eine wichtige nachhaltige Geschäftsmodellfunktion zuerkennt. Die Bedeutung von Assistance-Leistungen für die Kundenzentrierung lag seit dem O Jahre 2016 auf einem konstanten Level von 80%, stieg erstmals 2021 wieder auf 83%, um 2022 einen Zustimmungswert von 89% und aktuell sogar ein Mehrjahreshoch von 90% zu erlangen. Erneut sieht kein Versicherungsunternehmen der Befragung Assistance als bedeutungslos für das versicherungsbetriebliche Geschäftsmodell an.
Als Grundnutzen ihres Produkt- und Serviceangebots versucht die Versicherungswirtschaft über den gesamten Zeitraum des Assistance-Barometers eine Kundenzentrierung und serviceorientierte Arrondierung ihres Angebotes via Assistance-Leistungen anzustreben. Zur Gewinnung einer Unique Selling Proposition sollen Assistance-Produkte auch und besonders in einer digitalen Gesellschaft Serviceleistungen ermöglichen, die dem Versicherungsnehmer neben dem Grundnutzen der Schadenabsicherung Servicemehrwerte im Sinne einer kundenbindenden Maßnahme zur Ermöglichung einer „Customer Journey“ bieten. Beispiele wären Mobilitätsgarantien bei Pannen oder Unfällen des eigenen Fahrzeugs oder die Bereitstellung eines Ersatzfahrzeugs nach einem Unfall im Bereich Kfz sowie die Organisation und Durchführung von Krankenrücktransporten im Bereich Reiseversicherung oder die medizinische Hotline für alle Fragen rund um Gesundheit.
Vor dem Hintergrund dieser Ziele bewertet die Versicherungswirtschaft ihre Assistance-Leistungen und Serviceangebote wie folgt und ordnet ihnen die nachfolgenden Attribute und Mehrwerte zu:
Assistance dient ...
- ... der Imageverbesserung eines Versicherungsunternehmens
Zu den Vorjahren leicht reduzierte, aber weiterhin beeindru- ckende 79% der befragten Versicherungsunternehmen stimmen dieser Aussage zu.
- ... als Instrument zur Kundenbindung und Verringerung der Stornoquote
Weiterhin stimmen knapp zwei Drittel der Versicherungsunternehmen diesem Attribut zu.
- ... als Instrument der Produkt- und Sortimentserweiterung
Mit zu den Vorjahren ansteigender Zustimmung von 75% der Versicherungsunternehmen erreicht das Attribut der Produkt-/Sortimentserweiterung als Element einer Kundenzentrierung ein Sieben-Jahres-Hoch.
- ... als Werbeinstrument
Erneut sehen 70% der Versicherungsunternehmen in Assistance-Leistungen ein bedeutendes Werbe- und Marketinginstrument.
- ... als Instrument einer effizienten Schadenbearbeitung
Immerhin 71% der Versicherungsunternehmen qualifizieren Assistance als Hebel zur Verbesserung der Schadenbearbeitung.
- ... als Instrument zur Steigerung der Kundenzufriedenheit
Als Höchstwert der vergangenen zehn Jahre sehen aktuell 93% der Versicherungsunternehmen in der Assistance ein wichtiges Element zur Schaffung von Kundenzufriedenheit.
- ... im Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft der Neukundengewinnung
Nach einer höheren Zustimmungsquote in den Jahren 2020 bis 2022 fällt der Aspekt der Neukundengewinnung wieder auf eine schwächere Zustimmung von nur 57% der Versicherungsunternehmen.
- ... als Instrument zur Serviceoptimierung eines Versicherungsunternehmens
Mit einer zu den Vorjahren deutlich angestiegenen Zustimmungsquote von 96% wird Assistance von den Versicherungsunternehmen als sehr wichtiges kundenbindendes Serviceelement bestätigt.
- ... als Instrument zur Profilbildung eines Versicherers
Auch im aktuellen Assistance-Barometer 2023 bewertet nur eine leichte Mehrheit von 57% der Versicherungsunternehmen Assistance als wichtiges Element zur Profilierung des Geschäftsmodells.
- ... als Mittel zur Kosteneinsparung
Durch ihre prophylaktische Serviceorientierung können Assistance-Leistungen Schadenkosten verhindern oder reduzieren. Diese kostenreduzierende Funktion wird aber in den letzten Jahren nur noch von einer Minderheit der Versicherungsunternehmen, aktuell von 36%, bejaht.
- ... zur Erfüllung von Marktstandards
Mit einer über die Jahre wachsenden Zustimmungsquote sehen aktuell 79% aller Versicherungsunternehmen in Assistance-Leistungen einen Marktstandard.
Weiterentwicklung des Geschäftsmodells
Nachdem 90% der Versicherungsunternehmen die aktuelle Bedeutung der Assistance für ihr Geschäftsmodell als sehr hoch oder hoch bewertet hatten, sollten sie auch prospektiv zum Stellenwert der Assistance für ihr zukünftiges Geschäftsmodell Stellung nehmen. Angesichts aktueller Transformationen (digitale, nachhaltige sowie regulatorische Transformationen) könnte Assistance in der Zukunft veränderte Funktionen im versicherungsbetriebswirtschaftlichen Geschäftsmodell einnehmen:
Angesichts eines über die Jahre konstant hohen Stellenwerts der Assistance erscheint es wenig überraschend, dass mit 71% eine deutliche Mehrheit der Versicherungsunternehmen von einer zunehmenden Bedeutung der Assistance für ein verändertes Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft ausgeht. Dabei hat diese Quote um zwölf Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr zugenommen und liegt somit wieder über dem langjährigen Durchschnittswert von 70%. Weitere 25% der Versicherungsunternehmen gehen von einer gleichbleibenden Bedeutung der Assistance aus, nur ein Unternehmen erwartet eine abnehmende Bedeutung.
Offensichtlich erkennt und verfolgt die Versicherungswirtschaft selbst im sechzehnten Jahr des Assistance Barometers die Möglichkeiten, über Serviceleistungen individuelle Kundenzentrierungen zu ermöglichen, Kundenbindung zu schaffen und „Customer Journeys“ ihrer Versicherungsnehmer zu kreieren. Nach sechzehn Jahren wird die Bedeutung der Assistance-Leistungen für das Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft nachdrücklich bestätigt, indem de facto alle befragten Versicherungsunternehmen der Assistance weiterhin eine zunehmende oder gleichbleibend hohe Bedeutung für ihr zukünftiges Geschäftsmodell attestieren.
Wirken sich Assistance-Leistungen aus Sicht der Versicherungsunternehmen positiv auf die Kundenbindung aus?
Als Kernbestandteil einer agilen Versicherungsproduktion und Voraussetzung für die erwünschte Kundenzentrierung sowie zur Schaffung einer „Customer Journey“ müsste die Bedeutung der Assistance sich auch in entsprechenden Produktivitätskennziffern bestätigen. Wirken sich Assistance-Leistungen aus Sicht der Versicherungsunternehmen positiv auf die Kundenbindung aus? Immerhin 41% der Versicherungsunternehmen sehen durch Assistance-Leistungen eine deutliche Erhöhung ihrer Kundenbindung, weitere 56% der Unternehmen erkennen zumindest eine geringfügige Kundenbindungswirkung. Während der bisherige langjährige Mittelwert einer durch Assistance ermöglichten, deutlichen Kundenbindung bei 21% lag, verdoppelt sich der Anteil der Versicherungsunternehmen, die in Assistance-Leistungen eine starke Kundenbindung erkennen. Über die gesamte Erhebung betrachtet sehen 97% der Versicherungsunternehmen in Assistance-Leistungen eine kundenbindende Wirkung – ein deutliches Signal der Bedeutung von Assistance für den Erfolg des versicherungsbetriebswirtschaftlichen Geschäftsmodells.
Der „Problemlöser-Ansatz“ einer individualisierten, auf den Versicherungsnehmer zugeschnittenen Serviceleistung bietet als Element der Kundenzentrierung die Möglichkeit einer erfolgreichen und nachhaltigen Kundenbindung. Via Assistance können agile Versicherungsunternehmen ihren nach Service und Unterstützung suchenden Kunden (90% aller privaten Haushalte sind aktiv Servicesuchende) die erwünschte individuelle Kundenzentrierung ermöglichen und sie somit an die serviceorientierten Unternehmen binden. Assistance-Leistungen dienen als differenzierendes Geschäftsmodell im Reigen austauschbarer Versicherungsprodukte und werden somit zum kundenbindenden USP eines Versicherungsunternehmens.
Die Studie „Assistance Barometer“ ist bei der Europ Assistance SA bestellbar: presse@europ-assistance.de.
Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 06/2023, S. 26 f., und in unserem ePaper.
Bild: © magele-picture – stock.adobe.com; Grafiken: © Assistance Barometer 2023
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