Interview mit Dr. Sibylle Kessal-Wulf, Ombudsfrau für Versicherungen
Frau Dr. Kessal-Wulf, Sie wechseln vom Bundesverfassungsgericht zur Ombudsstelle. Was hat Sie zum Wechsel bewogen?
Als Richterin bin ich mit Streitentscheidung, aber auch mit Streitschlichtung befasst gewesen. Da jeder Zivilrichter nach der Zivilprozessordnung die Aufgabe hat, nach Möglichkeit den Rechtsstreit gütlich beizulegen, interessiert mich dieser Aspekt der Tätigkeit in einer Schlichtungsstelle ganz besonders. Zudem freue ich mich darauf, das unbürokratische, effektive und schnelle privat organisierte Streitbeilegungsverfahren mitgestalten zu können.
Sie sind die erste Frau in der Rolle – ist dies für Sie von Bedeutung?
Der Begriff „Ombud“ stammt aus dem skandinavischen Sprachraum und bedeutet Bevollmächtigter bzw. Treuhänder. Dort wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Institution Ombudsmann als unabhängige Vertrauensperson mit der Aufgabe initiiert, Beschwerden über die Verwaltung nachzugehen und so vor behördlicher Willkür zu schützen. Dieser Grundgedanke, eine Persönlichkeit zu beauftragen und mit Kompetenzen auszustatten, damit sie in bestimmten Bereichen einer als ungerecht empfundenen Entscheidung nachgehen kann, findet sich auch in der Satzung des Vereins Versicherungsombudsmann wieder. Es geht allein darum, bei seiner Tätigkeit diesem Grundgedanken gerecht zu werden. Ob die Aufgabe von einem Mann oder einer Frau übernommen wird, spielt aus meiner Sicht keine Rolle.
Die Digitalisierung hat auch in der Versicherungsbranche in den letzten Jahren rasant an Fahrt aufgenommen. Der digitale Vertrieb nimmt zu, künstliche Intelligenz hat in den Unternehmen Einzug gehalten. Kommen dadurch neue Beschwerden auf bzw. verändern sich die Probleme der Verbraucher?
Der digitale Vertrieb ist seit Jahren etabliert und wird von den Versicherungsnehmern zunehmend genutzt. Dabei kommt es nicht in signifikanter Weise zu neuen Problemen, sondern bestehende Probleme treten deutlicher hervor. Um ein Beispiel zu geben: In der Kfz-Versicherung führt die Komplexität der Tarifierungsmerkmale und insbesondere das System der Schadenfreiheitsklassen, das von Versicherer zu Versicherer verschieden sein kann, wegen der möglichst einfach gehaltenen Antragsfragen häufig zu Missverständnissen. In der Regel wird über die Antragsmaske die Schadenfreiheitsklasse abgefragt, die der Vertrag beim bisherigen Versicherer hatte oder in die er dort für das nächste Versicherungsjahr eingestuft werden soll. Ist aber zum Beispiel in dem noch laufenden Jahr ein Schadenfall eingetreten oder ein unter Umständen schon vor Jahren regulierter Schaden rabattgeschützt gewesen, dann entspricht die dem Antrag zugrunde gelegte Schadenfreiheitsklasse nicht der tatsächlichen. Es kommt dann, nachdem der Nachversicherer die Bestätigung vom Vorversicherer über den tatsächlichen Schadenverlauf erhalten hat, zu einer Rückstufung. Diese bedingungsgemäß zulässige Rückstufung erfolgt manchmal Monate später und der Versicherungsnehmer, der nicht mehr mit Änderungen gerechnet hat, ist verärgert. Aus Verbrauchersicht wäre es wünschenswert, wenn im Rahmen der Antragstellung auf solche etwaigen Probleme hingewiesen würde.
Daneben ist in der Kfz-Versicherung auffälliger als früher, dass bei einem Versichererwechsel die Kommunikation der Unternehmen zu den Schadenfreiheitsklassen störanfälliger geworden ist. Schon kleine Abweichungen bei den Namen führen automatisch zu negativen Rückmeldungen, oder Versichererwechsel werden nicht registriert. Der Versicherungsnehmer kann nicht eingreifen, muss aber unter Umständen einen höheren Beitrag zahlen. Oder er verweigert die höhere Beitragszahlung, gerät in Verzug und verliert den Versicherungsschutz. Nicht selten muss im Schlichtungsverfahren dann aufwendig geklärt werden, an welcher Stelle der Fehler liegt und wie er bereinigt werden kann.
Dass neben der offensichtlichen Digitalisierung der Prozesse bereits KI eine wesentliche oder zusätzliche Rolle spielt, ist aus den Beschwerdeverfahren bisher nicht erkennbar. Vorstellbar ist aber ein Einsatz bei der Schadenmeldung oder bei der Betrugsaufdeckung, ohne dass zum jetzigen Zeitpunkt gesagt werden könnte, dass dies zu einer erheblichen Veränderung des Beschwerdeaufkommens und der Beschwerde-inhalte geführt hat oder führen wird. Auch der Datenschutz dürfte von dieser Entwicklung betroffen sein. Allerdings sind datenschutzrechtliche Belange primär nicht Prüfungsgegenstand im Schlichtungsverfahren, sondern vertragliche Ansprüche.
Die meisten Beschwerden kommen aus der Sparte Leben. Welche konkreten Beschwerden haben Kunden am häufigsten?
Ein Schwerpunkt in der Lebensversicherung liegt bei den Fällen des Widerspruchs zu Vertragserklärungen mit dem Ziel der Rückabwicklung der Verträge nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen. Voraussetzung dafür ist ein Fehler in der Widerspruchsbelehrung oder ein Fehlen von Pflichtinformationen bzw. Unterlagen. Nach der Rechtsprechung führt das dazu, dass die Widerspruchsfrist nicht in Lauf gesetzt wird. Folge ist das sogenannte ewige oder fortdauernde Widerspruchsrecht. Viele Beschwerden erreichen uns zudem zur Höhe der Ablaufleistung oder des Rückkaufswertes nach Kündigung. Insoweit wird oft beanstandet, dass die erreichte Ablaufleistung deutlich hinter früheren Prognosen zurückbleibt. Beim Rückkaufswert wird neben der Entwicklung des Vertragsguthabens mitunter auch der Abzug der Stornogebühr moniert. Nicht wenige Beschwerden betreffen die vom Versicherer in die Verträge einkalkulierten Kosten. Gerade bei zertifizierten Produkten wie der Riester- oder der Basisrente, bei denen der Versicherungsnehmer jährlich in der Wertmitteilung über die Kosten informiert wird, kommt es immer wieder zu Fragen und Irritationen. Anlass für Beschwerden ist oft auch die Beratung bei Vertragsabschluss. Dabei spielen unter anderem die sogenannten Umdeckungsfälle eine Rolle. Kunden beschweren sich darüber, der Vermittler habe zur Kündigung eines bestehenden Vertrages geraten, der Abschluss des neuen Vertrages habe jedoch zu Nachteilen geführt, auf die sie nicht hingewiesen worden seien.
Auch in der Sparte Rechtsschutz gibt es recht häufig Beschwerden. Was ist da der Fokus?
Ein Schwerpunkt in der Rechtsschutzversicherung ist die zeitliche Einordnung des Rechtsschutzfalls. Die praktische Bedeutung dieser Frage ist hoch, weil Rechtsschutzfälle vor dem Beginn des Rechtsschutzes oder nach Beendigung des Rechtsschutzvertragsverhältnisses nicht versichert sind. Die Datierung des Rechtsschutzfalls ist auch bedeutsam für ein etwaiges „Sichhineinversichern“ in die Deckung bei einem sich abzeichnenden Rechtskonflikt.
Ein weiterer Beschwerdeschwerpunkt liegt in der Anwendung von Risikoausschlüssen, besonders im Falle des Ausschlusses für verschiedene Kapitalanlagegeschäfte und des Baurisikoausschlusses.
Beschwerdeträchtig ist überdies die Frage nach der Bindungswirkung eines anwaltlichen Stichentscheids zu den Erfolgsaussichten der beabsichtigten Wahrnehmung rechtlicher Interessen, für die der Rechtsschutzversicherer die Deckung versagt hat. Ein solcher Stichentscheid wird häufig vom Rechtsanwalt des Versicherten erstellt. Die Kosten dafür hat der Rechtsschutzversicherer zu übernehmen. Ein Stichentscheid ist nach den Vertragsbedingungen für beide Teile verbindlich, es sei denn, dass er offenbar von der wirklichen Sach- und Rechtslage erheblich abweicht.
Im letzten Jahr hat die Anzahl der Beschwerden über Vermittler abgenommen. Wie kommt das? Alles paletti im Vermittlermarkt?
Vermittlerbeschwerden können in vielen Fällen auch als Beschwerde gegen ein Unternehmen geführt werden, wenn der Vermittler als Erfüllungsgehilfe eines Versicherungsunternehmens tätig geworden ist und dessen Tätigkeit deshalb zivilrechtlich dem Unternehmen zugerechnet werden kann. Dies hat für den Versicherungsnehmer den Vorteil, dass nach unserer Verfahrensordnung die Möglichkeit besteht, das Unternehmen bis zu einer Wertgrenze von 10.000 Euro zu verpflichten und nicht nur eine Empfehlung abzugeben. Im Verfahren der Vermittlerbeschwerden existiert diese Befugnis zur verbindlichen Entscheidung nicht.
Vermuten Sie eine hohe Dunkel-ziffer von Verbrauchern, die mit ihren Beschwerden nicht an die Ombudsstelle herantreten? Kann etwas getan werden, um die Bekanntheit zu fördern?
Eine etwaige Dunkelziffer lässt sich kaum abschätzen. Ich gehe aber davon aus, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher, die ein Problem mit ihrem Versicherer haben, die Unterlagen ansehen oder auf der Website ihres Versicherers recherchieren. Und dort, auf deren Website, in den Versicherungsbedingungen und auch in den Produktinformationen finden sie in aller Regel deutlich hervorgehoben den Hinweis auf den Versicherungsombudsmann e. V. In den Fachmedien, auch in den Veröffentlichungen der Stiftung Warentest, wird immer wieder auf die für Verbraucher kostenfreie Schlichtungsmöglichkeit hingewiesen. Und unseren eigenen Internetauftritt findet man ebenfalls leicht. Zudem werde ich, wie meine Vorgänger auch, die Kontakte zu allen interessierten Verbänden und Organisationen pflegen und dabei selbstverständlich die Chancen und Vorzüge der Schlichtung unterstreichen.
Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 05/2024 und in unserem ePaper.
Bild: © CHLietzmann
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