Der Preisauftrieb hierzulande wird nicht nachlassen. Im Gegenteil: Die aktuelle Schätzung des Statistischen Bundesamtes für den Monat Juni musste sogar wieder etwas nach oben auf 6,4% korrigiert werden. Insgesamt gehen die jüngsten Prognosen für das Jahr 2023 von einem Preisanstieg von etwa 6% aus – nachdem bereits 2022 die Preise um 7,9%, 2021 um 3,1% gestiegen waren. Doch gewiss ist das keineswegs, zu unsicher ist dafür die gegenwärtige geopolitische Lage.
Hohe Geschwindigkeit bei Leitzinserhöhungen
Deutschland und die Eurozone insgesamt werden nach Einschätzung der Chefvolkswirte großer Versicherer auch noch längere Zeit mit stark steigenden Preisen leben müssen. „Die Inflation bleibt ein hartnäckiges Thema für 2023 und 2024“, sagte Michael Menhart, Chefvolkswirt der Munich Re, auf einer Webkonferenz des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV). „Wir haben erst die erste Runde der Überwälzung bei den Energiepreisen gesehen“, ergänzte Ludovic Subran, Chefvolkswirt der Allianz.
Die dynamische Lage bei den Preisen hat zu einer abrupten Zinswende an den internationalen Finanzmärkten geführt. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins binnen eines Jahres von 0% auf 4% angehoben. So schnell wie noch nie und der höchste Stand seit Juli 2008 (AssCompact berichtete). Auch in anderen bedeutenden Währungsräumen wie in den USA oder in Großbritannien schnellten die Leitzinsen rasant nach oben. Erst vor wenigen Tagen hatte die Bank of England den Leitzins überraschend stark um weitere 0,5 Prozentpunkte auf nun 5% erhöht.
EZB gesteht Fehler bei Inflationsprognose ein
Doch wie könnte es bei der weiteren Entwicklung der maßgebenden Leitzinsen nun weitergehen? Nach Einschätzungen von Notenbankern und Chefvolkswirten bei Versicherern werden weitere Zinserhöhungen anstehen. So trafen sich in dieser Woche die mächtigsten Notenbankchefs im portugiesischen Ferienort Sintra zum EZB-Forum, um über die Bekämpfung der Inflation zu beraten. Anwesend waren Federal-Reserve-Chef Jerome Powell, EZB-Präsidentin Christine Lagarde, der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, und der neue Chef der Bank von Japan, Kazuo Ueda.
„Wir müssen noch mehr tun, wir werden beim nächsten Treffen im Juli den Leitzins wahrscheinlich erneut erhöhen“, sagte etwa EZB-Chefin Lagarde gegenüber anwesenden Medienvertretern. Erst im Jahr 2025, so die EZB-Prognose, würde sich die Teuerungsrate wieder beim Inflationsziel von rund 2% einpendeln. „Das anfängliche Gefühl, der Preisanstieg sei vorübergehend und wir als Zentralbank sollten daher nicht überreagieren, war falsch. Aber wir haben unsere Lektion gelernt, wie man an der Reaktion der EZB sieht“, wird die EZB-Präsidentin weiter zitiert.
Versicherer: Märkte müssen Erwartungen revidieren
Und auch für die Ökonomen aufseiten der Versicherer sind weitere Zinsschritte unvermeidlich: „Die Zentralbanken werden weiter an der Zinsschraube drehen, vor allem in Europa, vielleicht auch in den USA“, schätzt Jérôme Jean Haegeli, Chefvolkswirt der Swiss Re. Dass die Zinsen noch stärker steigen müssten, sei dem zögerlichen Handeln der Notenbanken zu Beginn des Preisanstiegs geschuldet: „Die Zentralbanken haben es einfach verschlafen“, kritisiert Haegeli.
GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen hält die Hoffnung auf Zinssenkungen jedenfalls für verfrüht: „Ich glaube, dass die Märkte ihre Erwartungen über die Haltung der EZB revidieren müssen.“ Dies betreffe vor allem den Zeitpunkt der ersten Zinssenkung. „Solange die Teuerungsraten ihren Zielwert noch um mehr als das Doppelte übersteigen, wird die EZB richtigerweise an ihrem Weg festhalten“, so Asmussen. Wie stark die Zinsen noch steigen, hängt laut Allianz-Chefvolkswirt Subran aber auch davon ab, „wie peinlich genau die EZB ihr Inflationsziel nimmt“.
Versicherer profitieren von steigenden Zinsen
Doch mit der weiteren Straffung der Geldpolitik verschlechtern sich auch die konjunkturellen Aussichten. Steigende Zinsen würden zu neuen wirtschaftlichen Verwerfungen führen, so Haegeli. Davon geht auch Menhart von Munich Re aus: „In der Vergangenheit ist es den Notenbanken nicht gelungen, eine dermaßen hohe Inflation auf ihr eigentliches Preisziel zurückzuführen, ohne volkswirtschaftliche Schmerzen auszulösen.“ Trotz der zu erwartenden wirtschaftlichen Einbußen halten die Chefvolkswirte eine entschlossene Reaktion der Notenbanken auf die Inflation für richtig: „Eine Rezession ist das kleinere Übel als eine langjährige Stagflation“, betonte Haegeli von Swiss Re.
Die steigenden Zinsen könnten nicht nur in der Realwirtschaft noch zu schmerzhaften Anpassungen führen, sondern auch im Finanzsektor, so Haegeli. Davon betroffen seien beispielsweise die Banken oder der Immobiliensektor. Für die europäischen Versicherer sieht er hingegen kaum eine Gefahr, sie seien eher Profiteur steigender Zinsen: „Das Anlageprofil der europäischen Versicherer ist qualitativ sehr gut.“
Allgemein höheres Zins- und Inflationsumfeld erwartbar
Langfristig wird Europa nach Ansicht von Menhart ohnehin mit einer höheren Inflation und höheren Zinsen rechnen müssen. Denn die preisdämpfenden Effekte der vergangenen Jahrzehnte, wie die Globalisierung und die Verlagerung von Produktion ins billigere Ausland, wirkten nicht mehr so stark. Dagegen gebe es vermehrt preistreibende Effekte, allen voran die Dekarbonisierung, die mit einer Verteuerung der Energie einhergehe. „Wenn man sich den langfristigen Inflationstrend anschaut, dann spricht viel dafür, dass wir ein höheres Zinsumfeld bekommen“, so der Chefvolkswirt der Munich Re. Es wird also noch eine Weile dauern, bis die Inflation bekämpft ist. (as)
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