Interview mit Prof. Dr. Günter Neubauer, Direktor des IfG – Institut für Gesundheitsökonomik
Herr Prof. Dr. Neubauer, die gesetzlichen Krankenkassen sind finanziell in Bedrängnis. Doch das liegt nicht nur an der Pandemie. Was sind und waren aus Ihrer Sicht die Auslöser für das Milliardendefizit?
Ein Defizit entsteht dadurch, dass die Ausgaben schneller steigen als die Einnahmen. Sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite gibt es Ursachen für das Defizit bei den Krankenkassen, die zum einen pandemiebedingt sind, zum anderen aber im System selbst begründet liegen. Zu diesen systemimmanenten Faktoren gehört auf der Ausgabenseite die demografische Entwicklung, die dafür sorgt, dass wir Jahr für Jahr mehr ausgeben für die Gesundheitsversorgung. Besonders sichtbar wird dies bei den Arzneimitteln. Hier wachsen die Ausgaben seit 20 Jahren schneller als die Einnahmen. Allein in den beiden Jahren 2019 und 2020 sind die Arzneimittelausgaben jeweils um mehr als 5% gestiegen.
Ein weiterer Effekt des demografischen Wandels zeigt sich bei dem Ausgabenanstieg für ärztliche Behandlungen, die gegenüber 2019 um 7% gestiegen sind. Dem steht ein langsameres Wachstum der Beitragseinnahmen der Krankenkassen gegenüber, die lediglich um 4% gegenüber 2019 gestiegen sind.
Werden die Beiträge also unabhängig von der weiteren Entwicklung der Pandemie weiter steigen?
Der systembedingte Trend hin zu höheren Kassenbeiträgen zeigte sich langfristig schon vor der Pandemie. Und er wird die nächsten zehn bis 15 Jahre anhalten, solange sich die Demografie weiter so entwickelt, wie es sich heute abzeichnet.
Welche Rolle spielt dabei das Thema Digitalisierung?
Auch einige Gesetze haben unabhängig von der Pandemie zur Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen beigetragen. Hierunter zählt, obwohl es paradox klingt, die Digitalisierung, und zwar insbesondere in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Die Bundesregierung verspricht sich von der Digitalisierung im Gesundheitswesen mittel- und langfristig Einsparungen. Doch im Augenblick, also auf das laufende und das kommende Jahr gesehen, führen die entsprechenden Maßnahmen zu höheren Kosten. So fordern etwa die Ärzte die Kosten für Investitionen in Soft- und Hardware bzw. ihre Mehrausgaben in puncto Digitalisierung von den Krankenkassen ein.
Lassen Sie uns noch näher auf die coronabedingten Kosten eingehen: Wie schlägt die Pandemie zu Buche?
Vorab ist zunächst festzuhalten, dass die Krankenhausausgaben in den Jahren 2019 und 2020 überraschenderweise insgesamt nur sehr mäßig gestiegen sind. Corona-bedingt haben sie aber stark zugelegt, denn die Pandemie hat vor allem im Krankenhaussektor Mehrausgaben ausgelöst. Dieser Kostenanstieg ist insbesondere den sogenannten Freihaltepauschalen geschuldet, im Rahmen derer Krankenhäuser Betten freihalten sollten für mögliche Corona-Erkrankte, dafür aber keine regulären Behandlungen in gleichem Umfang durchführen konnten. Die Vergütungen für die Krankenhäuser im Zuge dieser Pauschalen führten zu Mehrausgaben in Milliardenhöhe – konkret sind es 9,5 Mrd. Euro. Ein großer Teil wurde direkt durch den Bund und nicht von den Krankenkassen finanziert.
Nun plant die Bundesregierung, weiter steigende Zusatzbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung durch neue Milliardenzuschüsse abzuwenden. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Die Bundesregierung will den Regelzuschuss von 14,5 Mrd. Euro an die gesetzlichen Kassen, der die Ausgaben für mitversicherte Kinder ausgleicht, nochmals um 12,5 Mrd. Euro, als Ausgleich für pandemiebedingte Ausgaben, erhöhen. Es gibt noch einige weitere Ausgaben wie zum Beispiel die pauschalierten Zuschüsse für Sozialhilfeempfänger, welche die Krankenkassen erheblich belasten, also die Ausgaben für diese Gruppe nicht abdecken. In diesem Bereich sind die Krankenkassen aber schon seit langer Zeit im Defizit, obwohl diese Ausgaben voll aus Steuermitteln und nicht aus Beitragsmitteln abzudecken wären.
Wenn der Staat heute zusätzliche Milliarden verspricht, gilt es zu bedenken, dass wir uns im Wahlkampf befinden. Die Mittel werden dann gebraucht, wenn eine neue Bundesregierung im Amt ist. Da es sich also um eine Hypothek für die nächste Regierung handelt, würde ich ein Fragezeichen ansetzen, ob und wie dieses jetzige Versprechen für 2022 auch tatsächlich eingelöst wird. Dies wird sehr davon abhängen, wie sich die neue Regierung letztendlich zusammensetzt.
Nun zeichnet sich aber auch ab, dass die pandemiebedingten Mehrausgaben möglicherweise langfristig anfallen, weil die Pandemie nicht gekommen ist und wieder geht, sondern bleibt. Die Pandemie wird uns vermutlich auf längere Sicht begleiten und damit auch die Mehrausgaben, die sie mit sich bringt – man denke nur an die im Augenblick in die Kritik geratenen Tests, die durchgeführt werden. Bei den Tests wird es wohl erstmal bleiben und ich rechne damit, dass künftig auch Geimpfte getestet werden, denn sie können gleichwohl infiziert sein, ohne dass sie es selbst merken, und das Virus möglicherweise weitergeben.
Steigende systemimmanente Kosten, weiterhin pandemiebedingte Mehrausgaben:
Kann der Staat langfristig an der Strategie festhalten, immer noch mehr Zuschüsse bereitzustellen?
In der Tat stellt sich die Frage, inwieweit sich die 27 Mrd. Euro für 2022, die die Bundesregierung bereitstellt und die sich zusammensetzen aus dem regulären Zuschuss von 14,5 Mrd. Euro sowie zusätzlichen 12,5 Mrd. Euro, die den Haushalt belasten, auf lange Sicht finanzieren lassen, gerade auch im Hinblick auf die generell hohe Verschuldung. Längerfristig wird der Staat versuchen, all das, was heute aus zusätzlichen Steuermitteln finanziert wird, perspektivisch auf die Beitragszahler zu verschieben oder die Steuern entsprechend erhöhen. Welcher Weg beschritten wird, ist vor allem eine Frage an die nächste Bundesregierung.
Und was bedeutet dies nun für die Beiträge für das kommende Jahr?
Die Beiträge werden in etwa stabil bleiben. Wobei zu bedenken ist, dass die gesetzlichen Krankenkassen jeweils individuelle Zusatzbeiträge kalkulieren. Es wird wohl auch Krankenkassen geben, bei denen wir möglicherweise Beitragserhöhungen sehen, aber im Durchschnitt dürfte es auf stabile Beiträge hinauslaufen. Dies bedeutet aber eben nicht Stabilität für jeden Beitragszahler. Da muss man abwarten, welche Kassen wie reagieren. Und es ist dabei auch zu beachten, wie sich die beitragspflichtigen Einkommen entwickeln. So ist die Entwicklung der Kurzarbeit bzw. der Beschäftigung von der allgemeinen Konjunkturentwicklung abhängig. Insofern ist für das kommende Jahr die wirtschaftliche Entwicklung entscheidend. Schließlich haben wir schon oft erlebt, dass die Vorhersagen daneben lagen.
Ein Faktor, der die Ausgaben und den Beitragssatz antreibt, ist die von der jetzigen Regierung getroffene Regelung, dass die Verbeitragung der Betriebsrenten nicht mehr zur Hälfte von den Rentnern selbst zu tragen ist, sondern voll von den Krankenkassen übernommen werden. Diese Maßnahme bedeutet einen Einnahmenausfall für die Kassen in Höhe von 3 bis 4 Mrd. Euro, was langfristig wirkt und die übrigen Beitragszahler abfedern müssen.
An dieser Stelle muss auch berücksichtigt werden, dass die jetzige Regierung ja im Wahlkampf vor vier Jahren versprochen hat, dass der Anteil von Steuern und Sozialabgaben für den Durchschnittsbürger die berühmte 40%-Grenze nicht überschreitet. Würde der Staat jetzt nicht höhere Zuschüsse für die GKV bereitstellen, würde diese Schranke im Jahr 2022 gerissen werden. Ob eine nachfolgende Regierung sich auch an diese Grenze hält, die ja vor allem die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken soll, bleibt fraglich. Zugleich würden dann die Zuschüsse der Regierung zur GKV als Argument zur Einhaltung der 40%-Grenze wegfallen. Von daher sind auch hier künftig Veränderungen möglich.
Um beim Thema Bundestagswahlkampf zu bleiben: Bei einigen Parteien steht die Bürgerversicherung (wieder) auf der Agenda. Ausweg oder Irrweg?
Wäre die nächste Bundesregierung beispielsweise grün-rot-rot, dann würde die GKV stark in Richtung einer Bürgerversicherung umgewandelt werden. Dies hieße, man würde die Beitragseinnahmen nach GKV-Manier aufheben. Es gäbe dann keine Beitragsbemessungsgrenze mehr und das versicherungspflichtige Einkommen wäre nach oben nicht mehr gedeckelt. Das würde ohne Zweifel Mehreinnahmen bedeuten, da man auch die Kapitaleinnahmen verbeitragen will, was im Übrigen technisch nicht ganz einfach ist. Es würde das Paradoxon eintreten: Der Beitragssatz zur Krankenversicherung würde sinken, aber die Belastung für eine Reihe von Bürgern ansteigen. Das ist letztlich das Ziel der Bürgerversicherung, nämlich, dass Menschen mit höheren Einkommen mehr zum Solidarausgleich beitragen als heute. Die private Krankenversicherung würde in diesem Modell auf längere Sicht nur noch eine Zusatzkrankenversicherung sein können. Ob es dazu kommt, hängt unter anderem vom Wahlausgang ab.
Mittlerweile haben sich die Grünen von einer Bürgerversicherung im engeren Sinne ein Stück weit verabschiedet. Sie würden nicht mehr die PKV aufheben wollen, aber von den Privatversicherten einen Beitrag in den GKV-Finanzierungsfonds erwarten, deklariert als Beitrag zum Solidarausgleich. Dies würde den Vorwurf aus der Welt schaffen, die Privatversicherten würden sich nicht genug am Solidarausgleich beteiligen.
Man kann lange darüber streiten, ob das Argument zutrifft oder nicht, aber wenn man davon ausgeht, dass die Grünen an der nächsten Regierung beteiligt sein werden, wie auch immer sie konkret gebildet wird, wird es sicherlich einen Trend in diese Richtung geben: Die PKV bzw. die Privatversicherten sollen sich stärker an dem Solidarausgleich beteiligen in Form von jährlichen Zuweisungen in Milliardenhöhe an den Gesundheitsfonds. Diese Mittel kommen dann wiederum den gesetzlichen Krankenkassen bzw. den gesetzlich Versicherten zugute.
Es würde also auf einen Lastenausgleich zwischen privat und gesetzlich Versicherten über den Gesundheitsfonds hinauslaufen. Bisher ist es so, dass die Privatversicherten für die gesetzlich Versicherten insofern an einem Ausgleich mitwirken, indem die Krankenhäuser bzw. die niedergelassenen Ärzte von den Privatpatienten höhere Preise verlangen und dies letztlich zu einer Entlastung der gesetzlich Versicherten führt. So wie im Flugzeug die Business Class die Economy Class mitfinanziert und Flüge für alle ohne die Business Class teurer werden würden.
Erwarten Sie Leistungskürzungen, um den steigenden Kosten bzw. Beiträgen entgegenzuwirken?
Dass Leistungen gekürzt bzw. aus dem Katalog herausgenommen werden, damit ist meiner Meinung nach nicht zu rechnen. Jedoch werden Leistungsausdehnungen bzw. -erweiterungen strikter gehandhabt werden – also Leistungen, die vor allem über den gemeinsamen Bundesausschuss in das System fließen. Hier wird das Vorgehen restriktiver ausfallen und Innovationen auf ihren Zusatznutzen strenger geprüft. Dies gilt vor allem für die Zulassung von Arzneimitteln. Es könnte auch sein, dass langfristig die Kostenbeteiligung von Patienten an Sachleistungen wie etwa Zahnersatz oder auch die Zuzahlungen für Versicherte bei Hilfs- und Heilmitteln erhöht werden. Damit ist aber nicht im kommenden Jahr schon zu rechnen, sondern eher mittelfristig.
Wenn neue Leistungen der gesetzlichen Kassen restriktiver behandelt werden, was bedeutet dies für die PKV-Anbieter in puncto Zusatzversicherung?
Überall dort, wo Zuzahlungen angehoben werden, ergibt sich ein Feld für die privaten Krankenversicherungen in Form von Zusatzversicherungen, um damit die gesetzlich Versicherten zu entlasten. Aber auch dort, wo die gesetzlichen Krankenkassen bei Innovationen zurückhaltender werden, kann sich die PKV ein entsprechendes Feld öffnen. Dies betrifft auch die vielfältigen digitalen Anwendungen. Wenn bei digitalen Anwendungen der Finanzierungsdruck zur Hemmschwelle wird und zu erwarten ist, dass die Prüfung durch den gemeinsamen Bundesausschuss oder die Bundesärztekammer zurückhaltender ausfallen wird, könnte die PKV diese Lücke füllen. Zum Teil macht sie es ja schon, indem digitale Anwendungen sehr viel großzügiger übernommen werden. Dies erhöht auf längere Sicht den Mut der Politiker zu Einsparungen im GKV-System.
Käme der PKV also die Rolle als „Innovationsmotor“ zu?
Je mehr die GKV bei Leistungen bremst, die innovativ ins System drängen, umso mehr kann die PKV Schrittmacher für Innovationen werden, indem sie diese Leistungen vorab über Zusatztarife abdeckt. Da ist das Feld riesengroß. Da sind dann nicht bloß die Privatversicherten, sondern alle Krankenversicherten angesprochen. Deswegen meine ich, dass sich längerfristig die Umorientierung der PKV hin zu einer Zusatzversicherung abzeichnet. Derzeit sind ja die privaten Krankenvollversicherten für die PKV als Kunden etwa fünf bis zehnfach ergiebiger als gesetzlich Zusatzversicherte. Aber auf längere Sicht dürfte sich das ändern.
Lassen Sie uns zum Abschluss nochmals auf das Thema Digitalisierung eingehen. Wie sehen Sie Deutschland hier aufgestellt?
Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen hat Spanien in Europa eine Vorreiterrolle übernommen, auch wenn die mögliche Geschwindigkeit noch lange nicht erreicht ist. Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland hinterher. Es gibt neben dem Datenschutz als großem Hemmnis unter anderem auch beträchtliche administrative Hürden. Dazu gehört zum Beispiel die vorgeschriebene Mindestausstattung mit Pflegepersonal in den Krankenhäusern, was die Kosten in die Höhe treibt. Will ein Krankenhaus durch Digitalisierung rationalisieren, darf es trotzdem die vorgeschriebene Mindestausstattung nicht unterschreiten. Somit entstehen durch Digitalisierungsmaßnahmen Zusatzkosten statt Rationalisierungsgewinne. Das ist paradox und nicht durchdacht! Es darf nicht sein, dass wir Digitalisierung mit Zusatzkosten verbinden und die dann möglichen Einsparungen für Krankenhäuser ausbremsen.
Das Problem in Deutschland ist: Herkömmliche Strukturen sollen beibehalten, aber trotzdem die Digitalisierung durchgesetzt werden. Die positiven Effekte kommen dadurch nicht denjenigen zugute, die in Sachen Digitalisierung schneller agieren. Dies ist eine Widersprüchlichkeit, was vielleicht auch darin liegt, dass das Gesundheitssystem an vielen Stellen quasi verbeamtet ist Man ist behäbig, akzeptiert keine strukturellen Veränderungen, die durch die Digitalisierung ausgelöst bzw. angestoßen werden. Ein Ergebnis davon ist, dass das deutsche Gesundheitssystem in puncto Digitalisierung zurückbleibt, wie beispielsweise beim Einsatz von Robot-Assistenzsystemen. Es bleibt die Frage, wer die Kosten für Erstinvestitionen für Innovationen in den Krankenhäusern übernimmt. Neue Technologien sind wirtschaftlich unattraktiv für Kliniken, obwohl gerade die jungen Ärzte sie gerne einsetzen würden.
Die derzeitige Investitionsförderung durch die Länder bleibt weit hinter dem notwendigen Investitionsvolumen zurück und lässt die Krankenhausversorgung in Deutschland schrittweise veralten. Das jetzt aufgelegte Krankenhauszukunftsgesetz von 5 Mrd. Euro für drei Jahre kann den Investitionsstau und damit auch den Digitalisierungsnotstand bei Weitem nicht aufheben. Bezeichnend ist, dass 25% des Sonderfonds für den Datenschutz aufgewendet werden müssen.
Bild: © Cozine – stock.adobe.com
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