Ein Artikel von Dr. Ulrich Keunecke, Partner und Leiter Legal Financial Services Insurance bei KPMG Law, und Timo Biskop, Fokusbereichsleiter Beratung und Vertrieb beim German Sustainability Network
Seit dem 02.08.2022 ist die Delegierte Verordnung (EU) 2021/1257 vom 21.04.2021 zur Änderung der DVO (EU) 2017/2358 und (EU) 2017/2359 („IDD-Änderungsverordnung“) in der Beratungspraxis verpflichtend. Konkret betroffen ist die Beratung im Zusammenhang mit dem Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten. Im Fokus steht dabei die – nunmehr erweiterte – Geeignetheitsprüfung im Rahmen des Beratungsvorgangs. Parallel ist mit dem 01.01.2023 „Level II“ der Offenlegungsverordnung wirksam geworden; hierdurch konkretisieren sich die Transparenzpflichten auch explizit für Finanzberater. Zum (ausklingenden) Jahresbeginn erscheint eine Standortbestimmung daher nützlich.
Neue Vorgaben werden im Vertriebsalltag nur zögerlich umgesetzt
Zunächst zeigen erste Marktuntersuchungen, dass die Umsetzung der neuen Vorgaben im Vertriebsalltag noch zögerlich angenommen, teilweise ignoriert werden. Dies liegt einerseits an einer ungünstigen Konstellation regulatorischer Vorgaben, die im Ergebnis mit dafür verantwortlich ist, dass das Informations- und Produktangebot momentan noch nicht im notwendigen Umfang bereitgestellt werden kann. Andererseits können aufgrund der heterogenen Umsetzung der Nachhaltigkeitspräferenzabfrage in den Prozessen und Systemen der Marktakteure herausfordernde Rahmenbedingungen konstatiert werden. Im Übrigen ist eine gewisse Zurückhaltung von Kunden nicht von der Hand zu weisen, die das inhaltliche Gewicht der Neuerungen im Tagesgeschäft ggf. – aber vermeintlich – reduziert.
Ansprüche aus mangelhafter Beratung könnten entstehen
Denn alle nachvollziehbaren Hintergründe und Rahmenbedingungen sollten nicht unterbetonen, dass sich mit der Einführung der ESG-Abfragepflicht auch die Risikolage im Versicherungsvertrieb final verändert hat: Im weiteren Sinne müssen Reputationsrisiken neu bewertet werden. Im engeren Sinne ist mindestens die Frage nach etwaig entstehenden Anspruchsgrundlagen aus einer mangelhaften Beratung diskutabel, wobei insbesondere die Empfehlung und der Abschluss von Versicherungsanlageprodukten fokussiert werden sollten. Der ohnehin komplexe Abfrageprozess von Nachhaltigkeitspräferenzen, der die Bestätigung der kundenseitigen Sachkunde voraussetzt, könnte nämlich zur Grundlage für Schadenersatzansprüche aus §§ 63 i.V.m. 61 Versicherungsvertragsgesetz („VVG“) avancieren, denen sich Versiche-rungsvermittler ausgesetzt sehen.
Deckungsbedürfnisse sind sachgerecht zu beraten
Grundsätzlich ist der Versicherungsvermittler zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der dem Versicherungsnehmer durch die Verletzung der Beratungs- und Dokumentationspflichten entsteht. Die Haftungsnorm des § 63 Satz 1 VVG knüpft an die Verletzung der in den §§ 60, 61 genannten Pflich-ten des Versicherungsvermittlers an. Ausgehend davon muss der Versicherungsvermittler für die Verletzung seiner Informationserhebungs-, Beratungs- und Dokumentationspflichten nach § 61 einstehen. Insbesondere dann, wenn er die Deckungsbedürfnisse des Versicherungsnehmers nicht in dem erforderlichen und gebotenen Umfang ermittelt und den Versicherungsnehmer nicht sachgerecht beraten hat.
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