Die Europäische Zentralbank (EZB) ist nach wie vor emsig dabei, die Zinsen anzuheben, um die Inflation weiter zu senken. Vergangene Woche erhöhte die Notenbank den Leitzins zum achten Mal in Folge auf 4% (AssCompact berichtete). Die Strategie ist auch von Erfolg geprägt – zumindest, wenn man den Angaben der EZB glaubt. Laut einer Pressemitteilung von Ende Mai seien im Euro-Raum im April auch weniger Kredite vergeben worden (AssCompact berichtete).
Doch nicht alle sind Fans dieser Geldpolitik – auch nicht in Deutschland, wie eine neue Umfrage der Atradius Kreditversicherung zeigt. Die Umfrage wurde unter mehr als 350 deutschen Unternehmen durchgeführt. Fast jedes dritte (31%) sei gegen eine weitere Anhebung der Leitzinsen durch die EZB. Insbesondere die Baubranche beklage die aktuell hohen Zinsen, so eine Pressemitteilung von Atradius zu der Studie.
Baubranche und Zulieferindustrie „total eingebrochen“
Eines der befragten Unternehmen sieht die kontinuierlichen Leitzinserhöhungen für die Baukonjunktur als „sehr dramatisch“. Dadurch seien die Baubranche plus Zulieferindustrie „total eingebrochen“, wie es von einer weiteren Firma aus der Bauindustrie heißt. Diese Einschätzung spiegle sich auch in der Zahlungsmoral wider. Atradius zufolge dauern die Zahlungen in der Baubranche im Durchschnitt derzeit 30 bis 60 Tage und Zahlungsverzögerungen und Insolvenzen nähmen erkennbar zu.
Atradius geht davon aus, dass die Insolvenzen im Baugewerbe im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 25 bis 30% steigen würden, wobei kleine und mittlere Unternehmen am stärksten gefährdet seien.
EZB-Politik soll Konjunktur behindern
Die Mehrheit aller befragten Firmen (57%) sei Atradius zufolge derweil der Meinung, dass die Konjunktur nur „teilweise“ durch die hohen Zinsen behindert wird. Die Inflation werde danach zum derzeitigen Zeitpunkt nicht durch eine überhitzte Konjunktur angetrieben, sondern durch andere Faktoren wie etwa die hohen Energiepreise. Nur 15,8% der Unternehmen hätten angegeben, dass die Konjunktur nicht durch die Geldpolitik der EZB behindert wird.
Zinspause?
Ebenfalls 57% der befragten Unternehmen seien der Ansicht, dass weitere mögliche Zinserhöhungen durch die EZB von der Konjunkturentwicklung abhängig gemacht werden sollten. Europa hätte bei den Zinsen einen Nachholbedarf gegenüber den USA, heißt es aus den Unternehmen. Allerdings müsse laut der Umfrage angesichts der neuesten Inflationszahlen und Wirtschaftsdaten versucht werden, eine ausgleichende Situation zu erreichen. Einigkeit herrsche der Umfrage zufolge darin, dass die Inflation eingedämmt und wieder in den Bereich von 2 bis 3% gebracht werden müsse.
„Die Aufgabe der EZB ist es, die Preise stabil zu halten – und dieser Aufgabe kommt sie derzeit nach. Allerdings sollte sie angesichts der aktuellen konjunkturellen Entwicklung mit Augenmaß agieren und eventuell, wie in den USA, eine Zinspause erwägen“, schätzt Frank Liebold, Country Director Deutschland bei Atradius, die Situation ein. Denn die finanzielle Stabilität der deutschen Unternehmen sei weiterhin stark beeinträchtigt von zahlreichen Unsicherheiten im Markt. „Steigende Finanzierungskosten durch höhere Zinsen können zum Beispiel dazu beitragen, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen aufschieben oder gar nicht erst tätigen. Für das Unternehmenswachstum und die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland ein durchaus einschränkender Faktor“, so Liebold. (mki)
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