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5. März 2024
„Auch die Versicherungswirtschaft ist nach wie vor nicht diskriminierungsfrei“
„Auch die Versicherungswirtschaft ist nach wie vor nicht diskriminierungsfrei“

„Auch die Versicherungswirtschaft ist nach wie vor nicht diskriminierungsfrei“

Die Gewerkschaft ver.di macht sich auch in der Versicherungsbranche stark für Equal Pay. Martina Grundler, Expertin für die Branche, sieht aber noch an anderen Stellen Handlungsbedarf. Im Interview spricht sie u. a. über das Engagement der Mitglieder in der Gewerkschaft, Teilzeitarbeit sowie neue Entwicklungen wie New Work und KI. Dabei hat sie auch Ideen gegen den Fachkräftemangel.

Interview mit Martina Grundler, bei ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Expertin für die Versicherungsbranche
Frau Grundler, der Equal Pay Day und der Weltfrauentag nähern sich wieder. Zeit, zu hinterfragen, wie es um die Situation der Frauen in der Versicherungsbranche steht. Wie würden Sie diese beschreiben?

Auf den ersten Blick sieht es in der Branche ganz gut aus: Wir haben eine hohe Tarifbindung und Tarifverträge sind ein Garant dafür, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt wird. Wir als Gewerkschaft nehmen darüber hinaus Regelungen im Tarifvertrag in den Blick, die diskriminierend wirken können.

Der zweite Blick verrät dann aber, dass auch die Versicherungswirtschaft nach wie vor nicht diskriminierungsfrei ist. Auch wenn es in den letzten Jahren Fortschritte gegeben hat und viele Unternehmen Maßnahmen zur Frauenförderung auflegen. Frauen arbeiten auch heute oft in der Sachbearbeitung oder im Kundenservice, nicht in den besser bezahlten Bereichen. Nach einer britischen Studie könnte Lohnungleichheit durch die zunehmende Digitalisierung der Branche noch verstärkt werden, weil Männer durch geschlechtsspezifische Kompetenzzuschreibung häufiger Stellen erhalten, die technische Qualifikationen erfordern und besser bezahlt werden.

Auch beim Blick auf die Führungsebenen zeigt sich, dass es Handlungsbedarf gibt. Obwohl fast die Hälfte der Mitarbeitenden Frauen sind, ist der Anteil an weiblichen Führungskräften – vor allen Dingen in den höchsten Führungsebenen – nach wie vor deutlich geringer.

Einige Unternehmen der Branche untersuchen zwischenzeitlich systematisch, ob Frauen auf gleichen oder vergleichbaren Positionen im Unternehmen genauso wie Männer bezahlt werden, und heben die Gehälter von Frauen an, wenn ein unterschiedliches Bezahlungsniveau festgestellt wird. Solche Initiativen sind insbesondere bei übertariflicher Bezahlung notwendig.

Der Equal Pay Day soll auf die weiterhin bestehende Lohnlücke zwischen Männern und Frauen aufmerksam machen. Haben Sie Beispiele, welche Maßnahmen helfen können, damit der Equal Pay Day irgendwann am 01.01. stattfindet, also das Lohngefälle nicht mehr existiert?

Ein wesentlicher Grund für das Lohngefälle ist aus meiner Sicht nicht, dass Frauen für die gleiche Arbeit in der Branche schlechter bezahlt werden, sondern dass es nach wie vor die Frauen sind, die Elternzeit nehmen und danach oft mit Teilzeit in den Beruf zurückkehren. Die männlichen Kollegen ziehen dann in der beruflichen Entwicklung an den Frauen vorbei und gut bezahlte und qualifizierte Tätigkeiten sind männlich besetzt. Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die viele Unternehmen ja aufgelegt haben, sind da wichtig. Was aber selten angeboten wird, meiner Meinung nach aber zentral wäre, sind gute betriebliche Kinderbetreuungsangebote, damit Frauen früher in Vollzeit zurückkehren können. Genauso wichtig wären Konzepte, die es ermöglichen, fachliche Karrieren oder Führungsaufgaben auch in Teilzeit zu übernehmen. Bei Rückkehr in den Beruf nach der Familienphase spielen auch Beratungs- und Coachingangebote eine wichtige Rolle, um die Lohnlücke zu schließen. Neben der gezielten Förderung von Frauen zur Übernahme von Führungsfunktionen, die eine Reihe von Unternehmen ja umsetzen, sollte auch die gezielte Förderung von Frauen zur Übernahme von technisch geprägten Stellen und Stellenprofilen in den Blick genommen werden.

Was raten Sie Frauen in puncto Bezahlung – auch außerhalb eines Tarifvertrags? Etwa in Führungspositionen oder auch bei Versicherungsmaklerunternehmen?

Wichtig wäre aus meiner Sicht, über Gehälter in den Unternehmen zu sprechen und mehr Transparenz über Bezahlung herzustellen, als wir heute haben. Denn die Auskunftsrechte durch das Entgelttransparenzgesetz reichen aus meiner Sicht nicht aus, um ausreichend Transparenz über die tatsächliche Situation im jeweiligen Betrieb zu erhalten. Nur wenn wir aufhören, die konkreten Gehälter als Tabu zu behandeln, kommen wir geschlechtsspezifischen Unterschieden wirklich auf die Spur. Da, wo es einen Betriebsrat gibt, würde ich raten, den auch einzuschalten. Der Betriebsrat ist gesetzlich verpflichtet, ungleiche Behandlung und Diskriminierung aufzugreifen und vom Arbeitgeber Abhilfe zu verlangen.

Engagieren sich denn Frauen, die in der Versicherungsbranche tätig sind, ausreichend in der Gewerkschaft?

Das Problem ist weniger, dass sich die Frauen zu wenig engagieren, sondern dass sich die Beschäftigten insgesamt zu wenig engagieren. Der Frauenanteil bei unseren Mitgliedern in der Versicherungsbranche liegt leicht über 50%, aber nur rund 10% aller Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Um gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen, brauchen wir mehr Gewerkschaftsmitglieder.

Sie haben bei den Tarifvertragsabschlüssen auch einiges in Sachen Teilzeit erreicht. Ein Thema, das weiterhin vor allem Frauen betrifft. Mit welchen Folgen?

Beispielsweise konnten wir durchsetzen, dass in der Branche jetzt auch Überstundenzuschläge bei Teilzeitarbeitsverhältnissen nach Überschreiten der arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit gezahlt werden, nicht erst beim Überschreiten der tariflichen Arbeitszeit von 38 Stunden. Da die meisten Teilzeitbeschäftigten Frauen sind, profitieren vor allen Dingen weibliche Beschäftigte von dieser Regelung. Die bisherige Regelung ging von der Vollzeit als Regel aus, und das bildet eben nicht die Realität vieler weiblicher Beschäftigter ab.

Aktuell verhandeln wir mit dem Arbeitgeberverband über ein Rückkehrrecht auf Vollzeit für die Kolleginnen und Kollegen, die in der sogenannten Teilzeitfalle sitzen, deren Teilzeitarbeitsverhältnis also vor Einführung des gesetzlichen Rückkehrrechtes begonnen hat. Denn obwohl die Unternehmen Fachkräftemangel beklagen, gibt es Kolleginnen und Kollegen, die die Arbeitszeit erhöhen wollen, aber kein Angebot vom Unternehmen bekommen.

Sie fordern einen Rechtsanspruch auf Home-Office. Was sehen Sie im Rahmen von New Work und Diversität auf die Branche zukommen?

Wir fordern nicht nur ein Recht auf Home-Office, sondern auch gute Rahmenbedingungen für das Home-Office. Die Arbeitswelt verändert sich ja nicht nur an diesem Punkt fundamental. Arbeit kann heute unabhängig vom Arbeitsort erledigt werden. Viele, gerade jüngere, Beschäftigte wünschen sich mehr Zeitsouveränität, wollen also stärker mitbestimmen, wann und wie viel sie arbeiten. Neue Arbeitsformen schaffen neue Formen der selbstbestimmten und sinnstiftenden Arbeit. Die Auflösung alter Stellenprofile, diverse Teams und höhere Selbstverantwortung können aber auch neue belastende Probleme schaffen. Die Herausforderung besteht daraus, sichere Arbeitsbedingungen zu erhalten, indem tarifvertragliche Regelungen den neuen Bedingungen angepasst werden, ohne deren Schutzfunktion aufzugeben.

Lange Zeit war die Versicherungswelt männlich geprägt und die entsprechenden Strukturen herrschen teilweise noch vor. Liegen dann vielleicht auch Schlüssel gegen den Fachkräftemangel in New-Work-Konzepten und diversen Teams?

Mit der Veränderung der Arbeitswelt verändern sich auch die Unternehmenskulturen und die Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten. Zum Beispiel haben die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Resilienz und Teamfähigkeit heute einen ganz anderen Stellenwert in der Arbeitswelt als früher. Das ist aus meiner Sicht auch eine große Chance für Frauen.

Die Digitalisierung und KI sind ein großes Thema der Branche. Machen Sie sich Sorgen um die Beschäftigten?

Bisher hat die Digitalisierung ja noch nicht die Rationalisierungspotenziale gebracht, die mal befürchtet wurden. Aber gerade der Einsatz von KI ist noch mal ein qualitativ neuer Schritt und stellt uns vor eine Reihe von Fragen, auch zum Wert und damit letztlich zur Bezahlung von menschlicher Arbeit. Wir stellen fest, dass mit der Digitalisierung von Arbeitsprozessen offenbar eine immer höhere Arbeitsbelastung und Druck auf die Beschäftigten entsteht. Bei allen Befragungen von Beschäftigten ist Arbeitsbelastung und Druck ein, wenn nicht das zentrale Thema. Das wird daher auch in unserer Arbeit und bei künftigen Tarifforderungen einen anderen Stellenwert haben als in der Vergangenheit.

Ein Blick in die Zukunft: Welche Entwicklung würden Sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren in der Versicherungsbranche gerne sehen?

Die Versicherungswirtschaft hat sich gerade auch in den aktuellen Krisen als sehr stabil und wirtschaftlich stark erwiesen. Das ist auch das Ergebnis der Arbeit und des Engagements der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Schaut man sich die Entwicklung der Geschäftsergebnisse einerseits und die Entwicklung der Einkommens- und Arbeitsbedingungen andererseits an, wird es aus unserer Sicht Zeit, dass die Beschäftigten stärker Berücksichtigung finden. Das heißt jetzt erst mal, dass die in den vergangenen Jahren inflationsbedingt eingetretenen Reallohnverluste durch entsprechend gute Tarifabschlüsse wieder ausgeglichen werden müssen. Das bedeutet außerdem, dass die Produktivitätssteigerungen auch genutzt werden, um mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten umzusetzen, und in der Perspektive ist auch die Frage nach der Arbeitszeit wieder auf der Tagesordnung. Der Wandel in der Branche ist so rasant, dass Qualifizierung ein immer wichtigerer Themenkomplex ist. Wir wollen Qualifizierungskonzepte, die es ermöglichen, dass alle Beschäftigten auch eine Zukunft in der neuen, digitalen Versicherungswelt haben.

Aktuell halte ich darüber hinaus das Thema altersgerechtes Arbeiten für ein wichtiges Thema. Fachkräftemangel begegne ich nicht nur, indem ich attraktiv für junge Beschäftigte bleibe, sondern auch indem ich den Rahmen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so gestalte, dass sie nicht vorzeitig in den Ruhestand gehen und gehen wollen. Konzepte für einen gleitenden, schrittweisen Übergang in den Ruhestand sind vor dem Hintergrund der Altersstruktur der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus meiner Sicht ein Gebot der Stunde.

Bild: © Martina Grundler, ver.di bzw. andinspiriert – stock.adobe.com

 
Ein Interview mit
Martina Grundler

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