Überobligatorische Tätigkeit trotz Berufsunfähigkeit lässt nicht die Leistungsverpflichtung des BU-Versicherers entfallen. Wird der Versicherungsnehmer unter Raubbau an seiner Gesundheit weiterhin beruflich tätig, führt dies nicht zur Leistungsfreiheit des Versicherers. Dies bestätigt einmal mehr das OLG Hamm in seinem Urteil vom 27.04.2018, Az.: 20 U 75/17.
Der Fall: Depressionen und dann noch Insolvenz
Die Klägerin war an Depression erkrankt und beantragte zum 01.04.2008 Berufsunfähigkeitsleistungen aus mehreren bei verschiedenen Versicherern abgeschlossenen Versicherungsverträgen. Zuvor war die Klägerin in einem Unternehmen tätig, das sie von ihrem Vater übernommen hatte. Es handelte sich um eine aus mehreren Gesellschaften bestehende Unternehmensgruppe mit insgesamt über 500 Mitarbeitern in Deutschland und Polen. Im März 2008 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der zur Unternehmensgruppe gehörenden Gesellschaften eröffnet, am 01.07.2008 zudem ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin.
Die Klägerin hatte als Geschäftsführerin durchschnittlich montags bis samstags etwa 14 Stunden täglich, sonntags etwa sechs bis acht Stunden gearbeitet. Zu ihren Geschäftsführertätigkeiten gehörten Controlling, Vertrieb, Einkauf, Produktionsüberwachung und Personalmanagement. Jedenfalls seit dem 16.03.2008 war sie jedoch nicht mehr in der Lage, diese oder andere Tätigkeiten auszuüben.
Ablehnung einer Leistungszahlung
Ein von den Versicherern veranlasstes Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin zwar den normalen Arbeitsalltag nicht ableisten könne. Der Sachverständige sah dies jedoch als eine „normale Reaktion auf den erlittenen Verlust“ an – gemeint war damit die Insolvenz – und erkannte nach seiner Einschätzung daher keinen Krankheitswert im Sinne der jeweiligen Versicherungsbedingungen. Die Leistung aus den Berufsunfähigkeitsversicherungen wurde daraufhin abgelehnt.
Die Berufsunfähigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen setzte in den streitgegenständlichen Verträgen voraus, dass die versicherte Person voraussichtlich für die Dauer von sechs Monaten zu mindestens 50% ununterbrochen außerstande war, ihren zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf weiter auszuüben.
Unabkömmlich als Geschäftsführerin des Unternehmens?
Ein Zeuge sagte aus, dass die Klägerin im Unternehmen letztlich unverzichtbar gewesen war, sodass grundlegende unternehmerische Entscheidungen nur von ihr in eigener Person getroffen werden konnten. Eine Umorganisation war vor diesem Hintergrund auch nicht möglich.
Trotz ihrer massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die schon Mitte 2007 bestanden, hatte die Klägerin bis März 2008 ihren Beruf zunächst in zeitlicher Hinsicht uneingeschränkt weiter ausgeübt. Dennoch hat der Senat die Berufsunfähigkeit im Sinne der Bedingungen bei näherer Betrachtung der Gesamtumstände als gegeben angesehen.
Nach den Versicherungsbedingungen wird nicht verlangt, dass der Berufsunfähige seinen Beruf tatsächlich nicht mehr ausübt, sondern nur, dass die festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen die Fortsetzung seiner Tätigkeit vernünftigerweise und im Rahmen des Zumutbaren nicht mehr gestatten. Zu einem Raubbau an seiner Gesundheit ist der Versicherte zudem nicht verpflichtet, so der Senat. Das war auch hier der Fall.
Raubbau an Geist und Körper
Zwar war die Klägerin weiterhin beruflich tätig, jedoch hatte der Sachverständige bescheinigt, dass sie wegen ihrer gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vernünftigerweise schon im Oktober 2007, also sechs Monate vor dem beantragten Beginn der Berufsunfähigkeitsleistungen, ihre berufliche Tätigkeit hätte einstellen müssen. Der Sachverständige bestätigte, dass die Klägerin aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung in ihren Fähigkeiten derart massiv eingeschränkt war, dass überhaupt gar keine differenzierte Tätigkeit mit unternehmerischem Anspruch mehr möglich war oder wenn, dann jedenfalls nur unter Raubbau an ihrer Gesundheit.
Der Sachverständige hatte dazu ausgeführt, dass der äußere Eindruck, den man durch die weitere Tätigkeit hätte gewinnen können, nicht den tatsächlichen Auswirkungen der Erkrankung widerspricht. Eine erkrankte Person kann ihren Arbeitsalltag nach außen hin durchaus noch eine Zeit lang „durchhalten“, ohne dass das Umfeld eine spürbare Beeinträchtigung wahrnimmt, so der Sachverständige. Er hatte sodann aber auch angegeben, dass dieses „Durchhalten“ nach außen hin in tatsächlicher Hinsicht Raubbau an der Gesundheit für die Klägerin bedeutete, denn diese weitere Tätigkeit war gesundheitsschädlich.
Auch die Einnahme von Medikamenten, um „weiter funktionieren“ zu können, kann den Raubbau an der Gesundheit bestätigen. Ob und wann von einem Raubbau an der Gesundheit und von Überobligation auszugehen ist, ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden.
Fazit: Für den Laien schwer erkennbar
Die Entscheidung stellt zunächst einmal klar, dass der Eintritt der Berufsunfähigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen auch dann nicht ohne Weiteres verneint werden kann, wenn der Versicherungsnehmer von außen betrachtet einfach weiterarbeitet. Es müssen weitere Umstände berücksichtigt werden. Gerade bei Unternehmensgeschäftsführern oder auch selbstständigen Alleinunternehmern ist eine solche Situation nicht selten anzutreffen. Das Unternehmen soll unter allen Umständen weiter fortgeführt werden. In einem solchen Fall, wenn die weitere berufliche Tätigkeit zu einer Belastung für die Gesundheit wird, liegt Raubbau und Überobligation auf der Hand. Für den Versicherungsnehmer als Laien wird es hingegen schwierig sein, den Eintritt des Versicherungsfalls und die Möglichkeit der Leistungsbeantragung zu erkennen.
In der Praxis zeigt sich dies häufig dadurch, dass der Versicherungsnehmer einfach „nicht mehr kann“. Beim Erkennen dieser Situation und bei der Beantragung der Leistungen benötigt der Versicherungsnehmer die fachkundige Hilfe und Unterstützung seines erfahrenen Versicherungsmaklers.
Bild: © jat306 – stock.adobe.com
Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 11/2019, Seite 130 f.
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