Was hat sich denn auf Ratingseite geändert?
Da sehe ich verschiedene Entwicklungen. Auf den Bereich der Produktbewertungen hat die Digitalisierung massiven Einfluss genommen. Der Vertrieb kommt heute nicht mehr ohne Beratungssoftware aus. Der Produktvergleich ist darin (nur) ein Teil des Prozesses. Dokumentation, Risikoprüfung, Vernetzung mit den Anbietern, Angebotstiefe und -breite sind hier weitere notwendige Anforderungen, die eine Beratungssoftware möglichst umfassend zu erfüllen hat. Es verwundert daher auch nicht, dass sich Maklerpools und Versicherer an entsprechenden Rating- bzw. Softwarehäusern beteiligen, brauchen sie diese doch verstärkt für ihre Geschäftsmodelle. Eine zweite wesentliche Entwicklung ging mit der Finanzmarktkrise 2008 einher. Ein wichtiger Mitauslöser waren zu positive Ratings für Subprime-Kredite in den USA. In der EU hat man darauf mit einer Regulierung von Bonitätsratings reagiert und insbesondere ein Registrierungsverfahren und eine laufende Beaufsichtigung von registrierten Credit Rating Agencys eingeführt.
Nach der Finanzkrise hat die Bedeutung von Bonitätsratings weiter zugenommen, da die hohen Kapitalanlagegewinne der Versicherer sukzessive den sinkenden Zinstrends folgten, wodurch die Versicherer an Kapitalstärke einbüßten. In Zeiten niedrigerer Überschüsse oder höherer Prämien konnten sich überwiegend die Versicherungsunternehmen am Markt beweisen, welche frühzeitig die Unternehmensqualität als Basis des Erfolgs beim Kunden vorausgesetzt und gleichzeitig die bilanzielle Kraft gestärkt hatten.
Aktuell sucht der Markt vor allem nach Orientierung und Standards im Bereich der ESG-Bewertung auf Produkt-, Lieferanten-, Arbeitgeber- oder Anbieterseite. Und auch hier können Ratings eine Hilfestellung leisten.
Fallen Ihnen relativ spontan zwei oder drei Aspekte ein, die heute ganz anders in der Finanz- und Versicherungswirtschaft sind als vor einem Vierteljahrhundert?
Die Krawatten sind weg und die Krawattenträger werden (langsam) weniger. Die Branche wird diverser. Der Umgang miteinander ist lockerer geworden, insbesondere auch über die Hierarchien hinweg. Zugleich hat das Thema Compliance einen hohen Stellenwert. Digitalisierung und die Pandemie sind zwei weitere Aspekte, die maßgeblich und sich auch einander bedingend das Arbeitsumfeld in der Assekuranz verändert haben.
Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Regulierung sind die übergreifenden Themen in der Branche. Wird die Zinswende nun aber der entscheidende Treiber?
Der Zins, das heißt dessen niedriges Niveau, war ein wesentlicher Treiber in den vergangenen fünfzehn Jahren. So lange hat ja die Phase rückläufiger Zinsen gedauert. In der Lebensversicherung hat dies zu einem grundlegenden Wandel in der Produktgestaltung − Stichwort Herabsetzung von Garantien − geführt. In der Kranken- und in der Schaden-/Unfallversicherung ist wiederum die Bedeutung der versicherungstechnischen Ergebnisse deutlich gestiegen, was sich dann auch in Unternehmenskennzahlen spiegelt. Nun haben sich sehr deutlich und vor allem auch kurzfristig die Vorzeichen geändert und damit auch Chancen und Risiken. Von der Dynamik des Inflations- und des Zinsanstiegs ist die gesamte Wirtschaft extrem betroffen. Es droht eine Rezession bzw. zumindest eine Stagflation mit hoher Inflation und niedrigem Wachstum. Die aktuellen Prognosen für das Wachstum in der Versicherungsbranche gehen jedenfalls in diese Richtung.
Was stimmt Sie über die genannten Themen hinaus pessimistisch und was optimistisch?
Pessimismus liegt mir nicht so. Das mag vielleicht daran liegen, dass ich fast mein ganzes Berufsleben unternehmerisch tätig sein durfte, was ich als positiv für das Selbstwertgefühl empfinde. Was ich aber als herausfordernd ansehe, sind die Themen Demografie und Wertewandel. Beides zeigt sich im Arbeitsmarkt. Stichwörter sind hier Fachkräftemangel und Vereinbarkeit von Arbeit sowie Freizeit bzw. Sinnstiftung der Arbeit. Das trifft auch die Versicherungsbranche, die gerade im Vertrieb stark unter Nachwuchssorgen leidet. Vorbildliche Initiativen wie der Jungmakler Award versuchen hier, dem Nachwuchs Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung zukommen zu lassen und somit den Beruf des Versicherungsvermittlers aufzuwerten. Als ein positives Zeichen werte ich auch, dass in der Politik das Thema Finanzbildung angekommen zu sein scheint. Bundesfinanzministerium und Bundesbildungsministerium haben hierzu gerade eine Finanzbildungsstrategie vorgestellt. Interessierte und informierte Kunden bieten den Versicherern Wachstumschancen.
Und wenn wir Sie zum Abschluss noch zum 25-jährigen Bestehen von AssCompact befragen würden, wäre Ihre Antwort?
Viele interessante Begegnungen mit Menschen gepaart mit informativen Berichten rund um das Thema Versicherung und Vertrieb. Danke hierfür und weiter so!
Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 05/2023, S. 32 f., und in unserem ePaper.
Bild: © Dr. Reiner Will, Assekurata
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