Ein Artikel von Jonas Piela, Managing Director Piela & Co. Digital Consultants
Die Erfindung der Dampfmaschine, die Verbreitung des Internets oder die Vorstellung des allerersten iPhones – kein Superlativ ist in diesen Tagen zu groß, um die vermeintliche Bedeutung der KI-Software ChatGPT zu beschreiben. Doch ob der November 2022 im Rückblick wirklich als Zäsur in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist noch immer offen. Immer wieder beeindruckt ChatGPT mit gut strukturierten Antworten auf komplexe Fragen, selbst in Rollen kann die Software schlüpfen und so etwa Mitarbeiterbewertungen aus der Sicht von Vorgesetzten schreiben oder aber altersgerechte Reime für das nächste Spiel auf einem Kindergeburtstag entwickeln. Doch wie steht es um das Potenzial der Software, wenn wir Spielereien außen vor lassen und professionelle Potenziale in der Versicherungswirtschaft unter die Lupe nehmen?
ChatGPT: So gut wie die zugrunde liegenden Daten
Um diese Frage beantworten zu können, lohnt zunächst ein Blick auf die Hintergründe von ChatGPT. Die Technologie basiert auf GPT-3, einem Sprachmodell, das Google im Jahr 2018 publik gemacht hat und das von ChatGPT-Betreiber OpenAI weiterentwickelt wurde. Das Modell operiert – vereinfacht dargestellt – mit riesigen Datenmengen und sagt auf Basis dieser Daten die Wahrscheinlichkeit voraus, mit der Wörter einer Antwort zur gestellten Frage passen. Quellen dafür sind Zeitungsartikel ebenso wie Bücher, aber auch Online-Foren oder Social Media. Die vom Sprachmodell generierten Antworten hat OpenAI nach und nach optimiert und das Modell so verbessert – das Ergebnis beeindruckt seit Ende 2022.
Fragt man allerdings Profis wie Patrick Glauner, Professor für künstliche Intelligenz an der Hochschule Deggendorf, hat auch das auf den ersten Blick sehr ausgereifte Modell Schwachstellen. Die Daten, auf denen ChatGPT basiert, stammen aus dem Jahr 2021. Neuere Entwicklungen wie etwa alles, was wir heute unter dem Begriff der Zeitenwende subsumieren, kennt ChatGPT nicht. Auch ist ChatGPT nicht vor Fehlern gefeit: Das Netz ist voll von Beispielen, in denen die KI an Matheaufgaben aus der Grundschule oder einfachsten Fragen zur Geografie scheiterte. Tools wie ChatGPT können also immer nur so gut sein wie die Daten, auf denen sie basieren. Wer KI-Tools im professionellen Umfeld einsetzen will, muss Daten pflegen – angesichts der enormen Datenmengen von kolportierten 800 GB und 175 Milliarden einzelnen Parametern bei ChatGPT ist das eine Herausforderung. Auch die Rechenleistung ist ein bedeutender Faktor. Um komplexe KI-Modelle trainieren zu können, bedarf es großer finanzieller Mittel – nicht umsonst dürfte OpenAI zuletzt Microsoft mit an Bord geholt haben. Der Software-Konzern aus Redmond stellt OpenAI über Jahre vermutlich auch in Form von Rechenleistung rund 10 Mrd. US-Dollar zur Verfügung. Fragt man Experten für KI, sind derart umfangreiche Mittel auch nötig, um Projekte wie ChatGPT weiterentwickeln zu können.
Die echte Revolution steht erst noch bevor
Maßgeblich für alle KI-Innovationen, die wir in den kommenden Monaten und Jahren erwarten können, wird das Sprachmodell GPT-4 sein, das kürzlich veröffentlicht wurde. Die Technologie soll noch einmal deutlich leistungsfähiger sein als seine Vorgänger – unter anderem soll GPT-4 mit 100 Billionen Parametern trainiert worden und in der Lage sein, ganze Bücher zu schreiben. Eine derart leistungsfähige Technologie dürfte auch viele Bereiche des professionellen Lebens tangieren. Trotzdem bleiben nach Einschätzung von KI-Profis grundlegende Probleme bestehen. Zwischen reinen Korrelationen von Datenpunkten und echten Kausalitäten unterscheiden zu können, dürfte auch für künftige Versionen von ChatGPT eine Herausforderung sein. Während Menschen kausale Zusammenhänge in der Regel intuitiv erkennen, lässt sich die KI von Korrelationen noch in die Irre führen – etwa wenn sich rein korrelativ im US-Bundesstaat Maine weniger Menschen scheiden lassen, wenn weniger Margarine gegessen wird. Was Menschen schmunzeln lässt, kann eine KI zu Fehlern verleiten.
Schneller und individueller: Kundenzentrierung dank KI
Ist der ChatGPT-Hype also übertrieben? Keineswegs! Schon heute hat die Technologie in vielen Büros Einzug gehalten. Menschen mit Personalverantwortung lassen sich damit bei Mitarbeiterbeurteilungen inspirieren und Marketing-Verantwortlichen hilft die Technologie bei schmissigen Betreffzeilen oder kreativen Einstiegen in Social-Media-Postings auf die Sprünge.
Doch wohin geht die KI-Reise der Versicherungswirtschaft? Neben den bereits genannten Beispielen, die schon bald in nahezu jedem Büro alltäglich sein werden, können Lösungen wie ChatGPT der Versicherungswirtschaft zu einem stärkeren Fokus auf den jeweiligen Kunden verhelfen. Beispielsweise ist es denkbar, dass die KI individuelle Verträge zunächst generiert und diese anschließend nur noch überprüft werden müssen. Damit würden viele Abläufe schneller und auch günstiger – die Profis in Versicherungsunternehmen müssten KI-Prozesse nur noch überwachen und orchestrieren und könnten sich auf komplexere Sachverhalte fokussieren.
Auch in der Kundenbetreuung können ChatGPT und Co. Vorteile ausspielen. Werden entsprechende Modelle anhand valider Daten trainiert, dürfte die Qualität der Antworten für die allermeisten Fälle zufriedenstellend sein. Und das Beste: Kunden würden Antworten nahezu in Echtzeit erhalten. Diese neue Schnelligkeit dürfte einen großen Beitrag zur Zufriedenheit leisten und könnte für Unternehmen aus der Versicherungsbranche schon bald zu einem Alleinstellungsmerkmal werden, das Kunden schätzen. Denkt man die rasante Entwicklung rund um das maschinelle Lernen weiter, könnte die Technologie sogar in Callcentern zum Einsatz kommen – denn dass die Ergebnisse komplexer Rechenoperationen verbal ausgegeben werden, ist seit Siri, Alexa oder Google Assistant längst nichts Neues mehr.
Kernkompetenz von Versicherern bleibt entscheidend
Damit sich KI auch bei Versicherungsunternehmen durchsetzt, müssen die Vorteile überwiegen. Schon heute sind die Chancen rund um ChatGPT offensichtlich. Wenn Versicherungsunternehmen bei der Entwicklung neuer Lösungen auch weiterhin den Kunden ins Zentrum stellen, kann die Technologie auch für Versicherer zu einer Erfolgsgeschichte werden. Ein Allheilmittel für alle Herausforderungen der Branche ist KI gleichwohl nicht – im Zweifel sollten sich Versicherer auch weiterhin auf eigene Berechnungen und die jahrelange Erfahrung stützen. Diese Kernkompetenz wird auf absehbare Zeit weder ChatGPT noch eine andere Software ersetzen.
Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 05/2023, S. 98 f., und in unserem ePaper.
Bild: © Sutthiphong – stock.adobe.com
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