Herr Dr. Blaich, ist die Digitalisierung für eine Vertriebsgesellschaft umso wichtiger, je größer sie ist?
Die Digitalisierung beeinflusst jeden von uns – ob Kunde oder Vermittler. Die Erwartungen an schnelle und einfache digitale Prozesse sind allumfassend. Gerade eine große Organisation wie die unsere profitiert mehr von effizienten Services als kleine Vermittler. Für uns ist die Digitalisierung wichtig, damit wir die Erwartungen unserer Kunden bestmöglich erfüllen und auch künftig eine große Produktauswahl sowie eine Beratung nach dem Best-Select-Prinzip bieten können. Die dafür notwendigen Kooperationen mit über 150 Produktpartnergesellschaften sind nur mit guten digitalen Standards effektiv und effizient zu organisieren. Gleichzeitig ist eine Mindestgröße erforderlich, um ein solches Geschäftsmodell umzusetzen.
Swiss Life Deutschland hat vor elf Jahren die BiPRO-Initiative mit ins Leben gerufen. Wie blicken Sie heute auf die bisherigen Entwicklungen?
Hinter Finanzdienstleistungen verbergen sich in der Regel Produkte und Dienstleistungen, die man nicht anfassen kann. Umso wichtiger ist es für unsere Branche, Kunden den Nutzen und Wert unseres Angebots auch durch die schnelle, effektive und kundenorientierte Bearbeitung und Verwaltung aufzuzeigen. Mithilfe der Digitalisierung ist das auf einem ganz neuen Niveau möglich. Die BiPRO-Initiative wurde lange unterschätzt, weil Versicherer an gewohnten Wegen festhielten und der Druck im Markt gering war. Seit einiger Zeit jedoch fördern sinkende Erträge und die zunehmende Digitalisierung in der Gesellschaft die BiPRO-Implementierungen. Da nicht die beste individuelle Schnittstelle wettbewerbsentscheidend ist, sondern die Kundenorientierung, ist eine branchenweite Normierung sinnvoller als Alleingänge. Die Standards des BiPRO e. V. sind dabei alternativlos. Es ist nicht mehr die Frage, welcher Standard genutzt wird, sondern nur, wann welche Services implementiert werden.
Das scheint noch nicht überall angekommen zu sein. Es gibt eine Initiative von Pools und Vertrieben, die Druck auf die Versicherer ausüben will, Standards schneller umzusetzen.
Es geht nicht darum, Druck auszuüben. Das Ziel der Initiative ist es, die Umsetzung der Services in den Unternehmen partnerschaftlich voranzutreiben. Die Anforderungen sind letztlich für alle Unternehmen gleich. Effiziente elektronische Prozesse und die Digitalisierung der Interaktion mit Kunden und Beratern erfordern Standards bei der Beauskunftung, Bestandsarbeit und Antragslogistik. Für diese Themenfelder haben aus der BiPRO-Arbeit die Vertriebe von Swiss Life Deutschland, MLP, blau direkt, Martens&Prahl, BCA, Smart InsurTech und Softwareanbieter wie ASSFINET, b-tix und zeitsprung gemeinsam die Prioritäten abgeglichen und geordnet. Daraus sind strategische Empfehlungen an die Versicherer entstanden, an denen sie sich orientieren können.
Was sind die genauen Kritikpunkte?
Einerseits erschwert die mangelnde Geschwindigkeit der Implementierung der BiPRO-Services durch die Versicherungsgesellschaften die Digitalisierung. Andererseits haben aber auch die bisher unterschiedlich formulierten Anforderungen der Vertriebe und Pools eine Fokussierung der Implementierungen erschwert. Das sollen die nun vereinheitlichten Empfehlungen ändern. Dabei gilt: 100% Standard sind besser als 95%.
Sollte der Vertrieb tatsächlich Versicherer bevorzugen, die die Standards entsprechend umsetzen?
Ein Versicherungsprodukt muss heute mehr sein als nur ein Stück Papier mit Konditionen und Bedingungen. Die digitalen Services, zum Beispiel für kundenorientierte Prozesse, gehören mittlerweile dazu und werden mit darüber entscheiden, ob eine dauerhafte Kundenbindung aufgebaut werden kann. Der Kunde erwartet, dass eine Änderung seiner Daten einfach, schnell und digital funktioniert – egal ob über den Versicherer oder seinen Berater.
Darüber hinaus sind alle am Vertrag beteiligten Parteien auf korrekte und aktuelle Daten angewiesen, um die Anforderungen der Regulierung und Kundenbetreuung erfüllen zu können. Deshalb haben auch wir, neben den klassischen Produkteigenschaften, die Qualität der digitalen Services und die Erfüllung unserer Anforderungen zur Datenqualität in unseren Produktprüfungsprozess aufgenommen. Nur wenn beide Kriterien erfüllt sind, wird das Produkt in unser Produktportfolio aufgenommen. Der partnerschaftliche Dialog mit unseren Produktpartnern ist uns in diesem Prozess jedoch sehr wichtig.
Jede Vertriebsform hat aber andere Prioritäten. Wie schwer ist es, einen gemeinsamen Nenner zu finden?
Es ist leichter als gedacht. Vertriebe, Handelsvertreter und Pools leiden seit Jahren unter den Mängeln der Datenversorgung. Diese wurden aber lange als unveränderlich angesehen. Nachdem das Thema bei einer BiPRO-Veranstaltung in kleinem Kreis angesprochen wurde, haben alle großen Vertriebs- und Maklerorganisationen erkannt, dass nur dann eine Chance auf Veränderung besteht, wenn die Bereitschaft zum Konsens gegeben ist. Darüber hinaus ist es hilfreich, dass die BiPRO-Normen zu Bestandsbeauskunftung und -bearbeitung mittlerweile anerkannt und konkurrenzlos sind.
Was ist mit den Maklerverwaltungsprogrammen (MVP)? Wie sieht Ihre Lösung an dieser Stelle aus?
Als große Vertriebsorganisation mit fünf Marken und bald 8.000 Handelsvertretern verwenden wir eigene Plattformen und digitalisierte Frontends. Deshalb kann ich mich zu den MVPs auf dem Markt nicht äußern. Nur so viel aus meiner Sicht: Ein gutes MVP muss heute BiPRO-fähig sein. Der Marktwirkung der Initiative hilft es ungemein, dass auch MVP-Hersteller den Vorstoß begrüßen und aktiv unterstützen.
Sind im Investmentgeschäft solche Probleme eigentlich völlig unbekannt?
Investmentgesellschaften orientieren sich an den Bankenstandards und nicht am Versicherungsmarkt. Teilweise ist die Bankenbranche beim Datenaustausch weiter. Teilweise gibt es jedoch unterschiedliche Anforderungen, zum Beispiel für den papierlosen Abschluss. Für die ganzheitliche kundenorientierte Beratung bedeutet dies mehr Komplexität und Investitionsbedarf. Wir setzen auf leistungsfähige Plattformen von Kooperationspartnern, die eine zentrale Depotverwaltung mit allen notwendigen Services über mehrere Depotbanken anbieten.
Lassen Sie uns einen Blick auf Ihre eigene Digitalisierungsstrategie werfen. Wie sieht diese aus?
Unsere Kunden erwarten eine moderne, digitale und persönliche Beratung. Mit unserem „SmartKonzept“ leisten wir genau dies. Unsere mehrfach prämierte Finanzanalyse ist für unsere Kunden damit individuell und digital erlebbar. Mit unserer Vertriebs-App „Acitivity“, die quasi ein „kleines CRM-System in der Hosentasche“ ist, können wir den Vertriebsalltag vereinfachen und damit die Kundenbetreuung noch weiter verbessern. Der Fokus schwenkt in Zukunft weg von vertrieblichen Frontend-Tools hin zu Kunden- und Backendprozessen. Somit schaffen wir eine vollintegrative Beratungswelt, die sowohl persönlich als auch digital funktioniert. Irgendwann werden unsere Tools gar nicht mehr zwischen der Zielgruppe „Kunde“ und „Vertrieb“ differenzieren, sondern einfach nur den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dafür investieren wir signifikant.
Und wie sieht Ihre Zukunftsvision aus?
Die BiPRO-Standards werden immer mehr als wichtige Bausteine bei der Digitalisierung verstanden. Wir erwarten eine flächendeckende Implementierung von folgenden Services: digitalisierter, papierloser Versicherungsantrag, Beauskunftung und digitale Änderung von Bestandsverträgen, digitalisierte Maklerpost, zum Beispiel Störfälle und Vertragsinformationen. Für diese Themen sind die Standards bereits definiert und haben eine hohe Reife erzielt.
Trotz der weiter fortschreitenden Digitalisierung glauben wir daran, dass persönliche Beratung in der Branche immer unverzichtbar bleiben wird – gerade bei der Beratung rund um komplexe Produkte und Lösungen. Wir versuchen deshalb, unseren Kunden und Beratern das Beste aus zwei Welten zu bieten: persönliche Beratung in Kombination mit smarten digitalen Tools – clever miteinander verzahnt. Die Digitalisierung ist eine Chance, unsere Kunden dort anzusprechen, wo sie sich bewegen, und so anzusprechen, wie sie es sich wünschen. So werden wir unserer gesellschaftlichen Aufgabe gerecht, die Menschen dabei zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Das Interview lesen Sie auch in AssCompact 03/2018, Seite 88 f.
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